vom goldnen Überfluss

Friedrich Hebbel Sommerbild Ich sah des Sommers letzte Rose stehn
  Herbstbild Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
  Winter-Landschaft Unendlich dehnt sie sich, die weisse Fläche
Rainer Maria Rilke Herbsttag Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross
  Der Panther Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
Theodor Storm Die Stadt Am grauen Strand, am grauen Meer
Heinrich Heine Die schlesischen Weber Im düstern Auge keine Träne
  Du bist wie eine Blume Du bist wie eine Blume
  Ein Jüngling liebt ein Mädchen das hat einen anderen gern
  Welkes Blatt Jede Blüte will zur Frucht
Joseph Freiherr von Eichendorff Mondnacht Es war, als hätt der Himmel
  Winternacht Verschneit liegt rings die ganze Welt
  Weihnachten Markt und Strassen stehn verlassen
Theodor Fontane Spätherbst Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün
Georg Trakl Verklärter Herbst Gewaltig endet so das Jahr
     
  Im Winter Der Acker leuchtet weiss und kalt
Johann Gaudenz von Salis-Seewis Herbstlied Bunt sind schon die Wälder
Hermann Hesse Im Nebel Seltsam, im Nebel zu wandern!
  Welkes Blatt Jede Blüte will zur Frucht
  (Übersetzung Bietenhard) Jedi Bluescht wott einisch Frucht
  Friede Jeder hat's gehabt, Keiner hat's geschätzt
Gottfried Keller Frühlingsglaube Es wandert eine schöne Sage
  Abendlied Augen, meine lieben Fensterlein
  Schlafwandel Im afrikanischen Felsental
Hugo von Hofmannsthal Manche freilich... Manche freilich müssen drunten sterben
Stefan George: Wer je die flamme umschritt Wer je die flamme umschritt
Bertold Brecht Fragen eines lesenden Arbeiters Wer baute das siebentorige Theben?
Friedrich Hölderlin Hyperions Schicksalslied Ihr wandelt droben im Licht
C. F. Meyer Zwei Segel... erhellend die tiefblaue Bucht!
  Der römische Brunnen Aufsteigt der Strahl
Fallersleben Herbstlied Der Frühling hat es angefangen
Kurt Tucholsky Wenn die Börsenkurse fallen...
     
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Esperanto Übersetzungen in Svisa antologio
 
 

Friedrich Hebbel


Sommerbild

Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
    Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schauernd im Vorübergehn:
    So weit im Leben, ist zu nah am Tod!

Es regte sich kein Hauch am heissen Tag,
    Nur leise strich ein weisser Schmetterling;
Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
    Bewegte, sie empfand es und verging.

Herbstbild

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!
    Die Luft ist still, als atmete man kaum,
und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,
    die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

O stört sie nicht, die Feier der Natur!
    Dies ist die Lese, die sie selber hält;
denn heute löst sich von den Zweigen nur,
    was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.


Winter-Landschaft

Unendlich dehnt sie sich, die weisse Fläche,
bis auf den letzten Hauch von Leben leer;
die muntern Pulse stocken längst, die Bäche,
es regt sich selbst der kalte Wind nicht mehr.

Der Rabe dort, im Berg von Schnee und Eise,
erstarrt und hungrig, gräbt sich tief hinab,
und gräbt er nicht heraus den Bissen Speise,
so gräbt er, glaub' ich, sich hinein ins Grab.

Die Sonne, einmal noch durch Wolken blitzend,
wirft einen letzten Blick auf's öde Land,
doch, gähnend auf dem Thron des Lebens sitzend,
trotzt ihr der Tod im weissen Festgewand.


Rainer Maria Rilke


Herbsttag

          Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süsse in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke: Gedichte


Der Panther

         

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein grosser Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.


THEDOR STORM


Die Stadt

          Am grauen Strand, am grauen Meer
Und seitab liegt die Stadt;
Der Nebel drückt die Dächer schwer,
Und durch die Stille braust das Meer
Eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
Kein Vogel ohn Unterlass;
Die Wandergans mit hartem Schrei
Nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
Am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
Du graue Stadt am Meer;
Der Jugend Zauber für und für
Ruht lächeld doch auf dir, auf dir,
Du graue Stadt am Meer.


Heinrich Heine


Die Schlesischen Weber

         

Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
"Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten
In Winterskälte und Hungersnöten;
Wir haben vergebens gehofft und geharrt,
Er hat uns geäfft und gefoppt und genarrt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem König, dem König der Reichen,
Den unser Elend nicht konnte erweichen,
Der den letzten Groschen von uns erpresst,
Und uns wie Hunde erschiessen lässt -
Wir weben, wir weben!

Ein Fluch dem falschen Vaterlande,
Wo nur gedeihen Schmach und Schande,
Wo jede Blume früh geknickt, Wo Fäulnis und Moder den Wurm erquickt -
Wir weben, wir weben!

Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,
Wir weben emsig Tag und Nacht -
Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben!"


Du bist wie eine Blume

          Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein;
Ich schau dich an, und Wehmut
Schleicht mir ins Herz hinein.

Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt,
Betend, dass Gott dich erhalte
So rein und schön und hold.

Joseph Freiherr von Eichendorff

Mondnacht

Winternacht

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Verschneit liegt rings die ganze Welt,
Ich hab' nichts, was mich freuet,
Verlassen steht der Baum im Feld,
Hat längst seien Laub verstreuet.

Der Wind nur geht bei stiller Nacht
Und rüttelt an dem Baume,
Da rührt er seine Wipfel sacht
Und redet wie im Traume.

Er träumt von künft'ger Frühlingszeit,
Von Grün und Quellenrauschen,
Wo er im neuen Blütenkleid
Zu Gottes Lob wird rauschen.

Weihnachten

Markt und Strassen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus,
sinnend geh ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
buntes Spielzeug fromm geschmückt,
tausend Kinder stehn und schauen,
sind so wundervoll beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
bis hinaus ins freie Feld,
hehres Glänzen, heil'ges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
aus des Schnees Einsamkeit
steigt's wie wunderbares Singen -
o du gnadenreiche Zeit!

Theodor Fontane


Spätherbst

Schon mischt sich Rot in der Blätter Grün,
Reseden und Astern im Verblühn,
Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht,
Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.

Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glüht.
Weg drum mit der Schwermut aus deinem Gemüt!
Banne die Sorge, geniesse, was frommt,
Eh Stille, Schnee und Winter kommt.


Georg Trakl


Verklärter Herbst

Gewaltig endet so das Jahr
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.
Rund schweigen Wälder wunderbar
Und sind des Einsamen Gefährten.

Da sagt der Landmann: Es ist gut.
Ihr Abendglocken lang und leise
Gebt noch zum Ende frohen Mut.
Ein Vogelzug grüsst auf der Reise.

Es ist der Liebe milde Zeit.
Im Kahn den blauen Fluss hinunter
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -
Das geht in Ruh und Schweigen unter.

Im Winter

Der Acker leuchtet weiss und kalt,
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.

Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.


Sommer


Am Abend schweigt die Klage
des Kuckucks im Wald.
Tiefer neigt sich das Korn,
der rote Mohn.

Schwarzes Gewitter droht
über dem Hügel.
Das alte Lied der Grille
erstirbt im Feld.

Nimmer regt sich das Laub
der Kastanie.
Auf der Wendeltreppe
rauscht dein Kleid.

Stille leuchtet die Kerze
im dunklen Zimmer;
eine silberne Hand
löschte sie aus;

windstille, sternlose Nacht.



Johann Gaudenz von Salis-Seewis


Herbstlied

Bunt sind schon die Wälder,
gelb die Stoppelfelder,
und der Herbst beginnt.
Rote Blätter fallen,
graue Nebel wallen,
kühler weht der Wind.

Wie die volle Traube
aus dem Regenlaube
purpurfarbig strahlt!
Am Geländer reifen
Pfirsiche, mit Streifen
rot und weiss bemalt.

Flinke Träger springen,
und die Mädchen singen,
alles jubelt froh!
Bunte Bänder schweben
zwischen hohen Reben
auf dem Hut von Stroh.

Geige tönt und Flöte
bei der Abendröte
und im Mondesglanz;
junge Winzerinnen
winken und beginnen
frohen Erntetanz.

Johann Gaudenz von Salis-Seewis: Aûtuna Kanto

Hermann Hesse



Im Nebel

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein.
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.

Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war,
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.

Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist einsam sein.
Kein Mensch kennt den anderen,
Jeder ist allein.

Friede

11.10.1914

Jeder hat´s gehabt,
Keiner hat´s geschätzt,
Jeden hat der süsse Quell gelabt,
O wie klingt der Name Friede jetzt!

Klingt so fern und zag,
Klingt so tränenschwer,
Keiner weiss und kennt den Tag,
Jeder sehnt ihn voll Verlangen her.

Sei willkommen einst,
Erste Friedensnacht,
Milder Stern, wenn endlich du erscheinst
überm Feuerdampf der letzten Schlacht.

Dir entgegen blickt
Jede Nacht mein Traum,
Ungeduldig rege Hoffnung pflückt
Ahnend schon die goldne Frucht vom Baum.

Sei willkommen einst,
Wenn aus Blut und Not
Du am Erdenhimmel uns erscheinst,
Einer andern Zukunft Morgenrot.

Welkes Blatt

Jede Blüte will zur Frucht
Jeder Morgen Abend werden.
Ewiges ist nicht auf Erden
Als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
Einmal Herbst und Welke spüren.
Halte, Blatt, geduldig still.
Wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
Lass es still geschehen.
Lass vom Winde, der dich bricht
Dich nach Hause wehen.

 

Jedi Bluescht wott einisch Frucht
Und jede Morgen Aabe wärde.
Ewigs git es nüüt uf Ärde,
Nume Wandel, nume Flucht.

O der luschtigscht Summer wott
Einisch Herbscht und Müedi gspüre.
Blatt, häb di geduldig still:
Lue, der Luft blast di ja vüre.

Hilf bim Spil und wehr di nid:
Blyb ruehig, gscheej was gscheej.
Der chutig Luft, wo di ab-bricht,
Blettli, wääjt di hei.

(Übersetzung: Ruth Bietenhard , Bärndütsch-Verein, 5. Juni 2002)


Gottfried Keller

Frühlingsglaube

Es wandert eine schöne Sage
Wie Veilchenduft auf Erden um,
Wie sehnend eine Liebesklage
Geht sie bei Tag und Nacht herum.

Das ist das Lied vom Völkerfrieden
Und von der Menschheit letztem Glück,
Von goldner Zeit, die einst hienieden,
Der Traum als Wahrheit, kehrt zurück,

Wo einig alle Völker beten
Zum einen König, Gott und Hirt;
Von jenem Tag, wo den Propheten
Ihr leuchtend Recht gesprochen wird.

Dann wird's nur eine Schmach noch geben,
Nur eine Sünde in der Welt:
Des Eigen-Neides Widerstreben,
Der es für Traum und Wahnsinn hält.

Wer jene Hoffnung gab verloren
Und böslich sie verloren gab,
Der wäre besser ungeboren:
Denn lebend wohnt er schon im Grab.


Abendlied

Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

Fallen einst die müden Glieder zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.

Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,
Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Flügelwehn.

Doch noch wandl' ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluss der Welt!


Schlafwandel

Im afrikanischen Felsental
Marschiert ein Bataillon,
Sich selber fremd, eine braune Schar
Der Fremdenlegion.
Lang ist ihr wildes Lied verhallt
In Sprachen mancherlei;
Stumm glüht der römische Schutt am Weg,
Schlafend ziehn sie vorbei.

Unter der Trommel vorgebeugt
Der schlafende Tambour geht,
Es nickt der Kommandant zu Ross,
Von webender Glut umweht;
Es schläft die Truppe Haupt für Haupt
Unter der Sonne gesenkt,
Von der Gewohnheit Eisenfaust
In Schritt und Tritt gelenkt.

Und was sonst in der dunklen Nacht
Das Zelt nur sehen mag,
Tritt unterm offnen Himmelsblau
Im Wüstenlicht zu Tag.
Es spielt das schmerzliche Mienenspiel
Unglücklichen Manns, der träumt;
Von Gram und Leid und Bitterkeit
Ist jeglicher Mund umsäumt.

Es zuckt die Lippe, zuckt das Aug',
Auf dürre Wangen quillt
Die unbemeisterte Träne hin,
Vom Sonnenbrand gestillt.
Sie schaun ein reizend Spiegelbild
Vom kühlen Heimatstrand,
Das grüne Kleefeld, rot beblümt,
Den Vater, der einst den Sohn gerühmt,
Verlornes Jugendland!

Ein Schuss - da flattert's weiss heran,
Und schon steht das Karree
Schlagfertig und munter, und keiner sah
Des andern Reu' und Weh;
Nur zorniger ist jeder Mann,
Willkommen ihm der Streit,
Doch wie er kam, zerstiebt der Feind,
Wie Traum und Reu' so weit!


Auch von Keller: Der Gemsjäger

Hugo von Hofmannsthal


         

Manche freilich ...

Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.

Manche liegen immer mit schweren Gliedern
Bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
Andern sind die Stühle gerichtet
Bei den Sibyllen, den Königinnen,
Und da sitzen sie wie zu Hause,
Leichten Hauptes und leichter Hände.

Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die anderen Leben hinüber,
Und die leichten sind an die schweren
Wie an Luft und Erde gebunden:

Ganz vergessener Völker Müdigkeiten
Kann ich nicht abtun von meinen Lidern,
Noch weghalten von der erschrockenen Seele
Stummes Niederfallen ferner Sterne.

Viele Geschicke weben neben dem meinen,
Durcheinander spielt sie alle das Dasein,
Und mein Teil ist mehr als dieses Lebens
Schlanke Flamme oder schmale Leier.


Stefan George


Wer je die flamme umschritt

Wer je die flamme umschritt
Bleibe der flamme trabant!
Wie er auch wandert und kreist:
Wo noch ihr schein ihn erreicht
Irrt er zu weit nie vom ziel.
Nur wenn sein blick sie verlor
Eigener schimmer ihn trügt:
Fehlt ihm der mitte gesetz
Treibt er zerstiebend ins all.

Friedrich Hölderlin


Hyperions Schicksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.


Bertold Brecht


Fragen eines lesenden Arbeiters

Wer baute das siebentorige Theben?
In den Büchern stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon,
Wer baute es so viele Male auf? In welche Häusern
Des goldstrahlenden Lima wohnten die Bauleute?
Wohin gingen an dem Abend, wo die chinesische Mauer fertig war
Die Maurer?
Das grosse Rom
Ist voll von Triumphbögen? Wer erreichte sie? Über wen
Triumphierten die Cäsaren? Hatte das vielbesungene Byzanz
Nur Paläste für seinen Bewohner?
Selbst in dem sagenhaften Atlantis
Brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang
Die Ersaufenden nach ihren Sklaven.
Der junge Alexander eroberte Indien.
Er allein?
Cäsar schlug die Gallier.
Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte ausser ihm?
Jede Seite ein Sieg.
Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein grosser Mann.
Wer bezahlte die Spesen?

So viele Berichte,
So viele Fragen.

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Conrad Ferdinand Meyer


Zwei Segel

Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!

Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.

Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.


C. F. Meyer: Du veloj

Der römische Brunnen

Aufsteigt der Strahl und fallend giesst
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfliesst
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.




August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 - 1874)
Herbstlied

Der Frühling hat es angefangen,
Der Sommer hat's vollbracht.
Seht, wie mit seinen roten Wangen
So mancher Apfel lacht!

Es kommt der Herbst mit reicher Gabe,
Er teilt sie fröhlich aus.
Und geht dann wie am Bettelstabe,
Ein armer Mann, nach Haus.

Voll sind die Speicher nun und Gaben,
Dass nichts uns mehr gebricht.
Wir wollen ihn zu Gaste laden,
Er aber will es nicht.

Er will uns ohne Dank erfreuen,
Kommt immer wieder her:
Lasst uns das Gute drum erneuen,
Dann sind wir gut wie er.



Kurt Tucholsky
Wenn die Börsenkurse fallen


Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben,
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen - echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft's hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken
auch die Spekulanten-Brut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muß eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der kleine Mann zu blechen
und, das ist das Feine ja,
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bißchen Krieg gemacht.


1930, veröffentlicht in "Die Weltbühne" (Gefunden im INWO-Newsletter) http://www.inwo.ch/

Alexandra: Mein Freund der Baum

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heim! Kehren Sie bitte zu meiner ersten Seite und zum Gästebuch zurück.
http://www.edimuster.ch/: Hier ist die Familie Muster in Ecublens VD - Eduard Muster: emuster@hotmail.com 13/11/08