Das Auge Gottes
Die
Nacht war kalt und klar. Hilde Odes schlüpfte in den warmen Wintermantel,
bevor sie auf die Dachterrasse hinaustrat. Hilde war Lektorin für Astronomie
- Professorin Hilde Odes. Aus Titeln machte sie sich allerdings wenig. Sie
zog es vor, sich von den Nachbarn mit Frau Odes oder Hilde ansprechen zu
lassen, je nach dem wie vertraut man miteinander war. Gabriele Kaspar und
Corinna Melchior nannten sie schon seit Jahren Hilde. Eine erstaunliche
Drei Nachbarinnen Freundschaft verband die Frauen. Gabriele und Corinna
lebten einige Strassenzüge weiter. Gabriele war Theologin, Corinna
Fachfrau für Lichterblickung. (Früher würde man Hebamme gesagt
haben.) Frau Kaspar arbeitete als Mitübersetzerin für die Bibel
in gerechtem Deutsch. In dieser Übersetzung wurden die sexistisch
männlichen oder antisemitisch klingenden Sprachformen aufgelöst.
Die Christen wurden nicht mehr Brüder genannt, sondern Brüder
und Schwestern oder Geschwister. Gott hiess ER/Sie/Lebenskraft
oder in Anlehnung an den jüdischen Brauch Adonai.
Doch kehren wir zu unserer Astronomin zurück. Professorin Odes hatte
auf ihrer Dachterrasse eine kleine Sternwarte eingerichtet. Sensationelle
Bilder und Berichte der NASA hatten sie an diesem Abend veranlasst, sich
zu ihrem Teleskop auf der Dachterrasse zu begeben.
Hatte es jetzt nicht geläutet? Frau Odes eilte ins Haus zurück
und öffnete die Eingangstüre.
- Gabriele und Corinna! Ihr beide! Ich kann mir vorstellen, was Euch zu
mir führt. Ihr seht, ich bin winterlich angezogen. Ich war bereits
auf der Dachterrasse und wollte mir das Ganze anschauen.
- Sie haben Aufnahmen in der Tagesschau gezeigt, meinte Corinna,
ich wollte mich mit eigenen Augen überzeugen, dass dieser Nebel so
aussieht. Ohne das Ende der Tagesschau abzuwarten, bin ich aufgebrochen.
In der Eile habe ich vermutlich nicht einmal den Fernseher ausgeschaltet.
Und wer begegnet mir auf der Strasse...?
- Wenn man eine Freundin hat, welche ein Teleskop besitzt, dann
weiss man eben, wohin man geht, wenn am Himmel erstaunliche Erscheinungen
sichtbar werden, meinte Corinna lachend.
Hilde schloss die Eingangstüre
hinter den Freundinnen. An jedem gewöhnlichen Abend würde sie
den Frauen zuerst eine Tasse Kaffee angeboten haben oder ein Glas Sherry,
doch in diesem Augenblick drängte es alle drei zu dem Teleskop. Hilde
befreite das Instrument von der Umhüllung.
- Der Standort dürfte am östlichen Himmel sein,
bei Viertel nach Zehn. Ich glaube, ich habe es. Eine Sekunde... jetzt
noch die Schärfe und...
- Oooohhhh, kam es aus dreifachem Mund.
- Unglaublich, stammelte die Theologin mit rauem Flüstern.
Corinnas Stimme hörte sich tränenerstickt an, Tränen des
Staunens und der Bewegung.
-
Das Schönste, welches ich bislang in meinem Leben erfahren habe,
war meine erste Mithilfe bei einer Geburt. Auch damals kamen mir die Tränen,
als ich aus der dunklen, warmen Geborgenheit eines Mutterleibes ein Menschenkind
ins Licht heben durfte. Doch jetzt bin ich selber diejenige, die das Licht
erblickt. Ich kann nur eines sagen: das ist ein Auge Gottes; aus dem Himmel
blickt uns Gott an.
Die Hebamme hielt ergriffen inne.
Auch Gabriele Kaspar fühlte einen Kloss im Hals. Erst nach dreimaligem
Räuspern brachte sie einen vollständigen Satz zustande. Sie gebrauchte
dasselbe Wort wie Corinna - Auge Gottes.
-
Auge Gottes, das muss ich unbedingt meinen Theologiestudenten zeigen.
- Auge Gottes, sagte auch die Naturwissenschaftlerin - Auge Gottes,
das ist die beste Bezeichnung, doch meinen Astronomiestudenten müsste
ich zunächst einmal erklären, dass es sich bei diesem Auge Gottes
um den 650 Lichtjahre von der Erde entfernten Helix-Nebel handelt. Allein
der gelbe Ring hat einen Durchmesser von 3 Lichtjahren.
- Ich will ja nicht fragen, wie weit 650 Lichtjahre sind, meinte
die Fachfrau für Lichterblickung, die ihre Sprache wieder gefunden
hatte. Ich frage lieber nach der kleinen Zahl. Wie weit sind die drei
Lichtjahre im gelben Ring, ausgedrückt in Distanzen, welche Menschen
bereits zurückgelegt haben?
- 39 Millionen Mal zum Mond und zurück. Der Helix-Nebel ist
der Rest eines
Sterns, eine glühende Wolke, die ins All schoss, als dieser Stern
explodierte.
Auf einmal schien eine Melodie
in der Luft zu schweben.
-
Was summst du denn da, fragte die Hebamme die Theologin, ist das nicht
das Lied vom Stern von Bethlehem? War das Auge Gottes der Stern gewesen,
welcher schon die heiligen drei Könige nach Bethlehem geführt
hatte? Gabriele fing leise an zu lachen.
- Der Stern von Bethlehem hat mir soeben mitgeteilt, dass wir Freundinnen
Weihnachtsnamen tragen: Hilde ist Frau Odes. Ihr Mann ist Herodes. Mein
Familienname lautet Kaspar, wie einer der drei Heiligen Könige. Corinna
Melchior, du bist ebenfalls einer der Könige. Zusammen könnten
wir die drei Heiligen Königinnen sein. Das wäre dann wirklich
eine Bibel in gerechtem Deutsch. Und mit Hilde Odes, die ihrem Herodes
nichts erzählt, würden wir auch den grausamen Gott überwunden
haben; der Kindermord in Bethlehem würde nicht stattfinden.
- Und wie bitte schön bekommen wir Jesus nach Ägypten;
wollte Corinna wissen? Schliesslich muss laut Prophetie der Sohn aus Ägypten
gerufen werden. Oder machen wir aus dem Sohn auch gleich noch eine Tochter
für eine Bibel in noch viel gerechterer Sprache?
- Nein, eine Jesa Christa will nicht einmal ich als feministische
Theologin. Und nach Ägypten bekommen wir den Sohn auf friedliche
Art und Weise. Ein reicher Verwandter von Joseph ist in Ägypten gestorben,
ein Angehöriger jener Minderheit, die aus Ägypten nicht ausgewandert
ist.
- Ja, lasst uns die Weihnachtsgeschichte völlig neu schreiben,
schlug die Astronomin vor. Drei Königinnen, kein Kindermord, und
unser Joseph ist selbstverständlich jung und sexy. Maria ist total
verliebt in den schönen Joseph.
- Euch ist doch wohl klar, dass wir im Gegensatz zu unseren männlichen
Kollegen nicht zu spät zur Geburt kommen dürfen, sprach Corinna
mit Bestimmtheit.
- Spricht hier die königliche heilige Hebamme, fragte Hilde
lachend?
- So ist es. Und ihr, meine Freundinnen, werdet nicht einfach betend
niederknien. Die junge Familie wird froh sein über Frauen, weiche
zupacken und organisieren.
- Das Auge Gottes scheint ja wirklich unsere Fantasie und Kreativität
anzuregen, stellte die Theologin fest. Na dann nichts wie aufgestiegen
auf die Kamele, sonst muss das Kind doch noch ohne Hebamme auf die Welt
kommen.
Eine Wolke, die sich kurz vor
die Erscheinung am Himmel schob, liess das Auge Gottes schalkhaft zwinkern.
- Seht, Gott
freut sich über unser Krippenspiel, meinte Königin Corinna Melchior.
- Von Jerusalem bis Bethlehem sind es bloss einige Kilometer, meinte
Frau Odes, die sich als ortsansässige Königin gut auskannte.
Die Lichter dort oben am Berg, das sind die Oellämpchen des nächtlichen
Marktes von Bethlehem.
- Wird dein Mann deine Abwesenheit nicht bemerken und uns folgen,
fragte Königin Gabriele Kaspar besorgt?
- Keineswegs, beruhigte Frau Odes, Herodes ist in Rom. Nicht das
Kind in der Krippe wird ihn absetzen, sondern der Kaiser. Wenigstens was
Jerusalem anbetrifft. Der Kaiser will vermutlich einen Statthalter in
Jerusalem residieren lassen. Wenn Herodes Glück hat, wird man ihn
als Vasallenkönig wenigstens in Galiläa gewähren lassen.
- Machen dir diese kaiserlichen Pläne Angst, fragte Königin
Corinna besorgt?
- Es kommt, wie es kommen muss. Wir alle folgen unserer Bestimmung.
- Du meinst, wir alle folgen einem Stern?
- Gewiss. Keiner kann bestimmen, wann und wo er geboren wird und
oder ob er überhaupt auf die Welt kommen will. Keiner kann sich seine
Identität auswählen. Uns wurde ein Schicksal zugedacht, zugleich
aber auch Freiheit und Kreativität geschenkt.
Die Freundinnen nickten.
- Wenn wir
im Kaiserhaus in Rom geboren worden wären, würden wir jetzt
nicht hier sein und dem Auge Gottes folgen.
- Vielleicht wüssten wir nicht, dass unser Stern das Auge
Gottes ist, aber einem Stern würden wir ganz gewiss folgen oder sollten
ihm folgen.
- Man kann also seine Bestimmung verpassen? Sprichst du von Herodes,
deinem Mann?
Frau Odes seufzte.
- Nicht traurig sein,
meine Liebe, vielleicht bleibt ihr ja in Amt und Ehren in Jerusalem.
- Es geht mir weder um Jerusalem noch um Galiläa. Ich frage euch:
Kann es die Bestimmung eines Menschen sein, als Räuber und Mörder
auf einem Thron zu sitzen? Was wäre das für ein Stern, der uns
an einen solchen Ort führen würde? Nein, mein Mann folgt nicht
seinem Stern. Durch seinen Hunger nach Macht hat Herodes eine negative
Kreativität entwickelt, die nicht auf dem Weg des Sterns liegt. Wenn
mein Mann in Jerusalem geblieben wäre, würde er allen Grund
haben, sich vor dem königlichen Kind zu fürchten. Dieses Kind
wird der einzige Mensch sein, welcher nie den Weg des Sterns verlassen
wird.
Das Auge Gottes begann immer
heller zu strahlen. Unter ihnen lag Jerusalem, vor ihnen Bethlehem. Der
Herodes Palast, aus ferner Höhe zu sehen, wirkte dunkel. In Abwesenheit
des Herrschers fehlte die Festbeleuchtung, für welche die Herodes-Gelage
berühmt waren. Die goldenen Zinnen des Tempels dagegen funkelten
im Widerschein des Glanzes des Auges Gottes. Die Freundinnen waren jetzt
nicht mehr allein. Viel Volk strömte nach Bethlehem, Hirten und Bauernmädchen,
welche die weisen Frauen neugierig anstarrten. Und auf einmal, als ob
eine Stimme es befohlen hätte, blieben die Kamele vor einer Karawanserei
stehen. Die Königinnen stiegen von ihren Kamelen. Ein Stallknecht
kam ihnen aufgeregt entgegen.
- Kein Platz
in der Karawanserei! Wegen der Volkszählung sind heute...
Er verstummte. Seine Augen richteten
sich entsetzt nach dem Himmel. Ein zweiter Blick galt den weisen Frauen.
Drei Kronen glänzten im Lichte des Auges Gottes.
- Ich wollte natürlich
sagen: Wir haben genug Platz, korrigierte er sich.
- Bursche, führe unsere Kamele in den Stall und gib ihnen
zu saufen.
Den Königinnen ein seltsames
Bild. Es war ein ärmlicher, schmutziger Stall. Es roch durchdringend
nach Kamelpisse und Dung. Und dann - für königliche Augen unfassbar
- entdeckten sie die Beiden ein armes, jedoch sehr schönes Paar.
- Was für
ein wunderbarer Mann, dachte Frau Odes: leuchtende Augen,
Wuschelkopf, Waschbrettbauch, knackiger Po; nicht die geringste Ähnlichkeit
mit einer greisenhaften Krippenfigur.
Der Mann beugte sich über
ein zartes, liebliches weibliches Wesen, eher fast noch ein Kind als eine
erwachsene Frau. Der Mann hatte die starken Arme eines Handwerkers. Sanft
streichelte er die Wangen der jungen Frau, die gerade laut aufschrie. Die
Wehen hatten eingesetzt.
Für Corinna war die Stunde des Eingreifens gekommen.
- Stallknecht, es wird
sofort ausgemistet. Und du, junger Mann, du musst Joseph sein, du eilst
in die Gaststube und machst dem Wirt Beine und sagst ihm, dass er in fünf
Minuten mit heissem Wasser und reinen Tüchern auftauchen soll. Und
auch das Becken mit den glühenden Kohlen soll er mitbringen. Wir
brauchen hier dringend eine Heizung. Und wehe dem Wirt! Wenn er nicht
gehorcht, wird er erfahren, wozu der Zorn von drei Königinnen fähig
ist.
Unter der Türe tauchten Hirtenmädchen
und Bauern auf. Ehrfürchtig sanken sie in die Knie.
-
Raus mit euch für die nächste halbe Stunde.
Königin Gabriela begann den
Boden mit Myrrhe zu schrubben. Frau Odes entzündete Weihrauch. Endlich
konnte man wieder frei atmen. Der Wirt kam mit dampfenden Wassereimern angerannt.
Das Becken mit den glühenden Kohlen verbreitete wohligliche Wärme.
Joseph breitete die sauberen Tücher aus.
Die Hebammenkönigin wandte sie sich an das schöne Paar.
-
Hechelatmung, Maria, bitte noch nicht pressen. Joseph, aus den Augen kommt
der Mut. Du schaust deiner Frau tief in die Augen und flüsterst ihr
zärtliche Worte zu. Hecheln...hecheln.... Jetzt nicht mehr hecheln,
tief atmen, und jetzt pressen. Pressen, Maria... pressen... und ja...
so ist gut. Weiter. Und nochmals pressen. Hurrah, ein gesunder Junge!
Schwestern, Majestäten, begrüsst den Messias, den König
der Juden - den Heiland der Welt den Sohn Gottes.
Der Messias begann zu weinen.
-
Liebling, oh Liebling, flüsterte die junge Mutter und drückte
den kleinen König an die Brust.
- Er weint wie ein richtiger Mensch, staunte die Heilige Gabriele.
Vor Rührung kam ihr das Augenwasser.
Durch den Träneschleier blickte sie auf das Kind, dann auf den Papa
und wieder auf das Kind. Sie lächelte die junge Mutter huldvoll an.
-
Der Messiasli ist ganz der Papa, findest du nicht auch, Maria?
- Gabriele, du bist zwar gerührt, aber der Gedanke an ein
Wunder bleibt dir wohl fremd. Was bist du bloss für eine Theologin!
Die Hebamme schüttelte missbilligend
den Kopf. Der Messias dagegen verzog sein Gesichtchen wie zu einem Lachen.
-
Und lachen tut er auch wie ein Mensch.
- Er ist ein Mensch, sagte Maria sanft.
Die Königinnen knieten vor
dem kleinen Messias nieder. Die Heilige Hilde nahm die Krone von ihrem Haupt.
-
Ich lege meine Krone nieder stellvertretend für mächtige Kaiser,
Herodesse, Präsidenten und Wirtschaftsmagnaten, die Götter sein
wollen. Ich lege die Krone nieder vor Gott, der Mensch wurde.
Die Heilige Gabriele sprach:
Vor Gott, der ein gewaltloses Kind wurde, lege auch ich meine
Krone nieder. Ich lege sie nieder für alle Religionsführer,
die sich wie Götter benehmen und heilige Kriege führen.
Die Heilige Corinna sprach:
- Ich lege meine Krone nieder vor Gott, der so klein ist, dass jedes Herz
ihn anfassen kann. Ich lege sie nieder für alle, deren Denken zu
klein ist, als dass sie diesen grossen Gott denken könnten.
Frau Odes wandte sich an Joseph.
-
Myrrhe hat desinfiziert, der Weihrauch hat den Gestank in Wohlgeruch verwandelt
und hier ist ein Säcklein mit Goldnuggets für die Reise nach
Ägypten.
Königin Gabriele öffnete
die Stalltüre und rief:
- Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau'n!
Und wir Königinnen, wir kehren in den Palast nach Jerusalem zurück.
Da Herodes in Rom weilt, können wir uns das leisten.
Die weisen Frauen herzten noch einmal den Messias. Dann setzten sie wieder
die Kronen auf und schwangen sich auf die Kamele. Joseph und die Hirtinnen
und Hirten winkten den drei Königinnen nach. Lange Zeit sprachen die
Majestäten kein Wort. Unbeteiligte Wanderer würden nur das Tripptrapp
der Kamele gehört haben. Für die Königinnen dagegen war die
Stille erfüllt mit Engelsgesang. Am Himmel schien das Auge Gottes eine
Frage zu haben. Gabriele unterbrach als erste das Schweigen.
- Ich habe ein schlechtes
Gewissen.
- Wegen der von dir festgestellten Ähnlichkeit des Kindes
mit Papa Joseph?
- Nein, als liberale Theologin kann ich das gut vertreten. Mich
beschäftigt das Weglassen des Kindermords. Ich befürchte, ohne
den Kindermord von Bethlehem machen wir zu sehr auf heile Welt.
.................................................................
- Es war schon immer mein Anliegen gewesen, den Theologie-Studentinnen
und -studenten zu zeigen, dass Gott nicht grausam ist ...
Die Heiligen Königinnen sahen
jetzt wieder wie drei Frauen in Wintermänteln aus. Und sie standen
vor dem Teleskop auf der Dachterrasse der Astronomin Hilde Odes.
- Wenn wir
Gott von der Gewalt ausklammern, haben wir ein Problem mit vielen Erzählungen
aus dem Alten Testament, oder im Neuen Testament zumindest mit der Geschichte
vom Kindermord von Bethlehem. Nein, Gott ist nicht grausam, aber weil
er hineinwirkt in eine Welt der Gewalt, hat auch er mit Gewalt zu tun.
Die Gewalt, die Menschen einander antun, erleidet ja er. Immer und immer
wieder. Und seien wir ehrlich, schlimmer als der damalige Kindermord ist
das, was mit Millionen von Kindern heute geschieht. Das Morden des Herodes
geht weiter. Ich glaube, liebe Hilde, Du musst Herodes vorzeitig aus Rom
zurückkehren lassen.
Kein Problem.
Hilde lachte. Sie stellte sich
an das Geländer der Dachterrasse und zeigte in die Stadt.
- Seht ihr, da unten
die Lichter. Der Palast ist beleuchtet. Herodes ist zurückgekehrt
und hat keine Zeit verloren, Gäste zu empfangen. Gabriele, fahr du
weiter, das ist dein Fachgebiet.
- Herodes ist mitten unter uns sprach diese in unserer Zeit, und
er weiss, dass ihm von dem kleinen Kind Gefahr droht. Das ist kein Spiel,
und sogar als wir spielerisch philosophierten und theologisierten, war
es ein Spiel der Wirklichkeit.
- Unsere Gespräche waren echt, meinte die Hebamme, echt und
konkret. Es war, als ob wir tatsächlich dem Auge Gottes nach Bethlehem
hinauf gefolgt wären. Ich habe noch jetzt den Geruch der Kamelpisse
dieses schrecklichen Stalls in der Nase, aber auch den herrlichen Duft
des Weihrauchs.
Die Astronomin beugte sich über
das Teleskop.
- Was aber haben wir nun wirklich gesehen, das Auge Gottes oder den Helix-
Nebel? Kann mir das eine von euch sagen?
Die Hebamme liess die Augen von
der Astronomin zu der Theologin wandern.
-
Ich glaube, wir haben beides gesehen. Es gibt zwei Wahrheiten. Die Wissenschaft
verkündet die objektive, beweisbare Wahrheit, die für alle Menschen
dieselbe bleibt. Du, Hilde, als Astronomin stehst für die objektive
Wahrheit. Die andere Wahrheit ist die subjektiv erfahrbare Wahrheit, für
jeden Menschen anders erfahrbar. Du Gabriele stehst für die subjektiv
erfahrbare Wahrheit. Und ich als Hebamme sorge dafür, dass das gemeinsame
Kind der beiden Wahrheiten geboren wird. Es braucht eben drei Königinnen.
Noch einmal fuhr ein Wolkenfetzen
über den Helix-Nebel und liess das Auge Gottes fröhlich zwinkern.
Marcel Dietler
Ins Netz gestellt in Erwartung von Weihnachten 2007. |