Versagt die Schweiz vor dem Problem Europa?
[Dr. Beat Chr. Bäschlin, Bern, 1954]


Das eben zu Ende gegangene Jahr hat auf dem Wege zur europäischen Gemeinschaft doch bedeutende Etappen zurückgelegt. Vorerst sind am 10. Februar zwischen Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten die Zollschranken gefallen für die drei wichtigen Produkte Kohle, Stahl und Schrott, womit der Schuman-Plan in Kraft trat. Als zweiter grosser Schritt ist zu werten, dass die Diskussion um die Europa-Armee in das entscheidende Stadium eingetreten ist.
In dem Gestrüpp der Paragraphen, Konferenzen und Europakongressen ist es oft schwer, den Überblick über das ganze, ungeheure Aufbauwerk, das da im Gange ist, zu behalten. Wenn wir durch die Auslandskorrespondenten der schweizerischen Zeitungen auch gründlich orientiert werden, so fehlt uns doch meist die Beurteilung der europäischen Sache vom schweizerischen Standpunkt aus.
Wenn wir die Europa-Idee von eidgenössischer Warte aus beurteilen wollen, dann müssen wir uns in erster Linie darüber im klaren sein. dass unsere grossen Nachbarstaaten und die Monarchien Hollands, Belgiens und Luxemburgs den gemeinsamen Versuch unternehmen, auf demokratisch republikanischen Prinzipien aufbauend, ein übernationales Gebilde zu schaffen. Dieser übernationalen Organisation sollen staatsähnliche Souveränitätsrechte übertragen werden, womit praktisch die Schaffung eines staatsähnlichen Gebildes vorgenommen wird. Wenn sechs Völker, deren Staaten auf Grund des monarchischen Prinzips entstanden sind und die ihre monarchischen Ursprünge teilweise nicht zu überwinden vermochten - denken wir nur an Frankreich mit seinem undemokratischen und republikanischen Zentralismus! - die ausserordentliche Kraftanstrengung unternehmen, über ihre monarchische Vergangenheit hinauszugehen und auf demokratisch republikanischen Grundsätzen aufbauend einen Zusammenschluss zu suchen. so sollte dieser einzigartige Versuch durch seine Grösse und Verwegenheit bei uns in der Schweiz nicht nur Bewunderung, sondern Begeisterung auslösen.
Diese Begeisterung ist aber in der Schweiz nirgends zu spüren; dem Europagedanken gegenüber wird bei uns nur kalte Reserviertheit und ängstliche Zurückhaltung geübt. In der Schweiz herrscht ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Bestrebungen zur Schaffung einer europäischen Gemeinschaft. Dieses Misstrauen ist im grossen und ganzen der Ausdruck des Unglaubens, dass dem begonnenen europäischen Gemeinschaftswerk ein Erfolg beschieden sein könnte. Wenn wir Schweizer aber ungläubig sind, dass ein auf dem demokratischrepublikanischen Prinzip aufgebautes europäisches Staatsgebilde zu einem erfolgreichen Ende geführt werden könne, dann bedeutet das nichts anderes. als dass in der Schweiz kein Vertrauen und kein Glaube in die staatsbildende Kraft der Demokratie mehr existiert.
Es mag dies hart und vorwurfsvoll klingen und trotzdem sprechen nicht nur die Tatsachen, sondern auch gewisse Männer, die an der Spitze unseres Staatswesens stehen, für unsere Behauptung. Wir erinnern uns, dass ein Versuch zur Einigung Europas, der nicht auf demokratisch-republikanischen Grundsätzen - aber auch nicht auf monarchischen Prinzipien beruhte, sondern auf nackter Gewalt und Tyrannei - im Juni 1940 von unserem letztjährigen Bundespräsidenten dem Volke in beschwichtigenden Worten als gleichsam schicksalsgewollte unabänderliche Tatsache dargestellt wurde.* Bei dieser Gelegenheit wurden wir mit den Worten des Apostels Paulus aufgefordert, «den neuen Menschen anzuziehen», wobei dieses Gleichnis nicht in religiöser, sondern in politischer Hinsicht gedeutet werden wollte. Diese Rede, die jeden Schweizer damals zu tiefst beeindrukte, muss doch als eine wohlwollende Stellungnahme gegenüber dem damaligen Versuch der politischen Vereinheitlichung Europas betrachtet werden. Trotzdem doch dieser Versuch, Europa zu verwirklichen, auf Grundsätzen aufgebaut war, die unsern Staatsprinzipien in jeder Beziehung Hohn sprachen! Wenn also damals von höchster Stelle aus schon einiges Wohlwollen verbreitet wurde, so ist es wirklich nicht ersichtlich, warum diesmal einem Versuch zur Schaffung eines geeinten Europas, dem unsere schweizerischen Staatsprinzipien zu Grunde liegen, soviel Misstrauen und solch eisige Reserviertheit entgegengebracht wird.
Sollten die gegenwärtigen Bemühungen zur Schaffung einer demokratischen europäischen Staatengemeinschaft scheitern, so würde sich dadurch in unsern Nachbarländern eine sehr grosse Ernüchterung verbreiten und der Glaube an die Wirksamkeit der demokratischen und republikanischen Prinzipien würde erheblich zurückgehen. Dabei würde auch uns Schweizer ein grosser Teil der Verantwortung treffen. indem uns jedermann sagen könnte: «Eure demokratische Oberzeugung ist bloss mehr ein altes, abgetragenes Kleid, mit dem ihr euch nicht mehr getraut. Staat zu machen; warum sollten wir, die wir über keine tief verwurzelte demokratische Tradition verfügen, uns weiterhin um eine Staatsform bemühen, mit der wir zu keinen Resultaten kommen?» Mit diesen Enttäuschungen belastet würden unsere Nachbarvölker versuchen, auf Staatsformen zurückzugreifen, die ihre grossen Jahrhunderte charakterisieren oder aber sie würden in die Barbarei des Totalstaates versinken.


Wenn wir Schweizer im Augenblick weder aus politischen noch aus militärischen oder aus wirtschaftlichen Gründen ein Interesse sehen, uns am grossen Aufbauwerk der europäischen Gemeinschaft aktiv zu beteiligen, so sollte dieses gewaltige Unternehmen dafür umso deutlicher durch unsere ungeteilte Sympathie und unser ganzes Wohlwollen unterstützt werden. Wenn wir dies Mal träge und skeptisch bleiben, bedeutet das, dass in unserem Lande die demokratische Gesinnung und Überzeugung träge und alternd geworden ist.
Dr. Beat Chr. Bäschlin


Die europäische Jugend in der Schweiz sammelt sich im Bund Europäischer Jugend als schweizerische Jugendbewegung für die föderative Einigung Europas. Sie steht in engem Kontakt mit ähnlichen Organisationen in Frankreich, Deutschland, England, Italien, Österreich, Holland, Belgien, Finnland, Griechenland, Luxemburg und der Saar. Der Bund Europäischer Jugend schafft Kontakt zum übrigen Europa, vermittelt Ferien und Arbeitslager in allen freien Ländern Europas, ferner Reisen und Austausch von Studenten, Angestellten und Arbeitern.
Der Bund Europäischer Jugend ruft die Schweizer Jugend dazu auf, klar und illusionsfrei zu der im Entstehen begriffenen europäischen Staatengemeinschaft Stellung zu nehmen und an der Errichtung eines freien. demokratischen und föderalistischen Europas mitzuarbeiten.


*[Anmerkungen des Webmasters:
Philipp Etter, Geboren am 21. Dezember 1891, katholisch, heimatberechtigt in Menzingen. In den Bundesrat gewählt als Vertreter des Kantons Zug am 28. März 1934, Mitglied der Konservativen Volkspartei. Bundespräsident in den Jahren 1939, 1942, 1947, 1953. Vorsteher 1934 -1959 des Departement des Innern. Verstorben am 23. Dezember 1977.

14. Juni 1940: In den Morgenstunden zogen die deutschen Truppen in Paris ein. Am 24. Juni unterschrieb Frankreich das Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland und Italien.
25. Juni 1940: Die Radio-Ansprachen des Bundespräsidenten Pilet-Golaz und der Bundesräte Etter und Celio nach dem militärischen Zusammenbruch Frankreichs werden heute von vielen Historikerinnen und Historikern als «Dokumente der Anpassung» interpretiert.

Epheser 4
22 So legt nun von euch ab nach dem vorigen Wandel den alten Menschen, der durch Lüste im Irrtum sich verderbt. 23 Erneuert euch aber im Geist eures Gemüts 24 und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.]


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