Hurrapatriotismus, Krieg und Frieden


Bei der Suche nach der "Alkoholfrage" von Gustav von Bunge bin ich auf den Kommentar von Carl Spitteler gestossen, dann auf die Stellungnahmen von Georg Nicolai, Albert Einstein und August Forel (wie Bunge Pionier der Alkoholprävention, wie Einstein Pazifist) zum Hurrapatriotismus des 1. Weltkrieges. Im Dichter- und Stadtmuseum Liestal fand ich neben Spitteler auch den Asylanten Georg Herwegh, von dem ich ein Sonnet von 1843 übernehme.

Karl Spitteler zu Bunge - Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts (Spiegel) - "An die Kulturwelt!" Deutsche Hochschullehrer - Brief Forel an Haeckel - "Aufruf an die Europäer" (Nikloai, Einstein, Förster) - August Forel: Das Elend Europas - Owen: The Old Lie - Georg Herwegh: Dem Glanz der Throne bin ich wohl entronnen - Die Prinzipien der Kriegspropaganda


Carl Spitteler

Carl Spitteler, geboren am 24.4.1845 in Liestal bei Basel, gestorben am 29.12.1924 in Luzern. Landpfarrer, Hauslehrer in Russland und Finnland, Lehrer in der Schweiz, dann Redakteur in Basel und Zürich, später freier Schriftsteller. Er schrieb mythologische Epen, in denen antike Götter und Heroen modern umgedeutet werden. Spitteler war auch Lyriker, Erzähler und Essayist. 1919 erhielt er - als bisher einziger Schweizer - den Nobelpreis für Literatur. «Er wurde auch als deutschsprachiger Schriftsteller ausgezeichnet, der nicht deutschnational war», meint der Germanistikprofessor Werner Stauffacher.
Am 14. Dezember 1914 sehen wir Spitteler, wie er vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich eine Rede hält: «Unser Schweizer Standpunkt».
In Europa tobt der Erste Weltkrieg. Viele Deutschschweizer sympathisieren mit Deutschland und die Romands mit Frankreich. Spitteler distanziert sich von der deutschen Politik und ruft zu Neutralität und nationaler Eintracht auf. Die Rede prägt das Schweizer Nationalbewusstsein nachhaltig. Und kostet Spitteler die Zuneigung der Deutschen, denen er einen schönen Teil seines Ruhmes verdankt. Jahrhundertschweizer ,jetzt im Archiv in den USA) (200 Fragen an die Geschichte) (Auszüge aus der Rede mit Kommentar)


Carl Spitteler zur "Alkoholfrage" von Gustav von Bunge

"Herr Prof. Bunge hat letzten Dienstagabend in der Aula über die Alkoholfrage im weitesten kulturhistorischen Sinne dieses Wortes einen sehr anregenden Vortrag gehalten. Ich erinnere mich nicht, jemals eine schärfere, wirkungsvollere Philippika gegen den Alkohol gehört zu haben. Die wissenschaftliche Überlegenheit des Physiologen, seine nüchterne, scharfe Dialektik im Bunde mit der Wärme der Überzeugung, alles wirkte zusammen um die gebildeten Zuhörer ganz anders zu gewinnen, als dies eine gewöhnliche Temperenzlerrede je vermocht hätte. Beim Verlassen des Saales zeigten viele meiner Bekannten Spuren mehr oder minder tiefgehender Zerknirschung. Auf einer Proselytenliste, welche in diesem Augenblicke wäre herumgeboten worden, hätten Duzende unterzeichnet. Ich selber musste, zu Hause angelangt, ein Glas guten, sehr guten Weines trinken, um mich zu überzeugen, wie stark und unangenehm die sündhaften Bande noch sind, die mich an den von Herrn Bunge so unglimpflich behandelten alten Bacchus gefesselt hatte.
Jawohl, Bacchus! Denn Herr Bunge beschränkte sich nicht etwa darauf, die bekannten Folgen der Schnapssäuferei zu schildern, er machte auch dem Bier den, wie mir scheint, wohlverdienten Prozess, und selbst über den erlauchten, vielbesungenen Rebensaft und den mässigsten Genuss desselben wagte er den Stab zu brechen... Es liesse sich, so scheint mir, gegen die Behauptungen des Herrn Professor Bunge manches einwenden. Doch wozu die Wirkung einer Predigt abschwächen wollen, welche nirgends so sehr am Platze ist, als gerade in einem Lande, das im privaten wie im öffentlichen Leben dem Trunke und der Kneipe eine, mindestens gesagt, viel zu grosse Bedeutung eingeräumt hat? Nehme jeder von dem Gelehrten, so viel er kann und mag. Ich für meinen Teil bekenne bescheiden, dass bei voller Anerkennung der Tendenz des Herrn Bunge, die Berechtigung seiner radikalsten Postulate nicht eher vorurteilsfrei beurteilen zu können, als bis ich einmal die Wirkung fortgesetzter Enthaltsamkeit von jedem geistigen Getränke an mit selbst erprobt habe. Ein jeder, der sich für diese Frage interessiert, sollte sich gelegentlich dieser Prüfung unterziehen. Denn überzeugender als die Durchschnittserfahrungen an englischen Soldaten wirkt schliesslich - für den Betreffenden - die Erfahrung am eigenen Leib."
(Carl Spitteler am 26. November 1868 in der "Grenzpost")

Auch mit den kulturellen Aspekten des 2. Weltkrieges befasst sich eine Spiegel-Serie (Auszug):  

Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts

Die Spiegelserie über den 1. Weltkrieg und die Folgen ( Spiegel special 1/2004)

...Exemplarisch deutlich wird die Argumentationsnot der Deutschen in dem "Aufruf an die Kulturwelt!", einem von 93 renommierten deutschen Wissenschaftlern unterzeichneten Manifest an die "zivilisierte Welt". Kein anderes Produkt deutscher Propaganda hat international mehr Aufsehen erregt als dieses Manifest.
Heute ist bekannt, dass viele der Unterzeichner den vom Schriftsteller Ludwig Fulda ersonnenen Aufruf nicht einmal genau gelesen, sondern blanko unterschrieben hatten.
Das Ausland empfand die unverblümte Verteidigung des deutschen Militarismus und das Abstreiten evidenter Tatsachen als Verhöhnung jeder Wahrhaftigkeit. Französische, englische, auch amerikanische Universitäten erkannten den Wissenschaftlern, die den Aufruf unterzeichnet hatten, Ehrendoktorwürden oder Honorarprofessuren ab.
Wenn die deutsche Propaganda sich linkisch auf die "deutsche Kultur" berief und trotzig die "Ideen von 1914" (Gemeinschaftssinn, Ehrlichkeit, Opferbereitschaft) gegen die angeblich dekadente und lügnerische westliche Zivilisation stellte, so bestärkte sie auch auf diese Weise das Arsenal der alliierten Propaganda...


Jungdeutschland-Post

"Still und tief im deutschen Herzen muss die Freude am Krieg und ein Sehnen nach ihm sein, nach ihm leben. Weil wir der Feinde genug haben und der Sieg nur einem Volk gebührt, das mit Sang und Klang zum Kriege wie zu einem Fest geht. Verlachen wir also aus vollem Halse alte Weiber in Männerhosen, die den Krieg fürchten und darum jammern, er sei grausig und hässlich. Nein, der Krieg ist schön, seine hehre Grösse hebt das Menschenherz hoch über Irdisches, Alltägliches hinaus. Auch unser warten noch solche Stunden. Wir wollen ihnen entgegengehen mit dem männlichen Wissen, dass es schöner, herrlicher ist, nach ihrem Verklingen auf der Heldentafel in der Kirche ewig fortzuleben, als namenlos den Strohtod im Bett zu sterben."
(Jungdeutschland-Post - Wochenschrift für Deutschlands Jugend, 25. Januar 1913); zitiert nach "Warum ich Nein sagte", Josef Felder, rororo Sachbuch


An die Kulturwelt!
Ein Aufruf

Der nachstehende Aufruf ging uns zur Veröffentlichung zu:
  "Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der ganzen Kulturwelt Protest gegen die Lügen...
  Es ist nicht wahr, dass, Deutschland diesen Krieg verschuldet hat ...
  Es ist nicht wahr, dass wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen ...
     Es ist nicht wahr, dass unsere Truppen brutal gegen Löwen (die belgische Stadt; U.R.) gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft ... haben sie durch Beschiessung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen...
...Mit Selbstaufopferung haben es (das Rathaus von Löwen; U.R.) unsere Soldaten vor den Flammen bewahrt. Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerstört worden sein oder noch zerstört werden, so würde es jeder Deutsche beklagen. Aber so wenig wie wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen.
  Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts missachtet... Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weisse Rasse zu hetzen.
  Es ist nicht wahr, dass der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist ... Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins...
Glaubt uns! Glaubt uns, dass wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethovens, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.
  Dafür stehen wir."
(93 Unterzeichner - Berlin, 4. Oktober 1914)


(Die behaupteten "Wahrheiten" waren unwahr; die "Lügen und Verleumdungen" dagegen entsprachen alle der Wahrheit. webmaster)
Einer der Unterzeichner, Philipp Lenard, sieht den Krieg als Kampf zwischen "deutscher Kultur" und "westlicher Zivilisation".
Einen kommentierten Auszug aus dem Aufruf finden Sie in Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft.
 

Hier finden Sie den Aufruf als Faksimilie:
http://philoscience.unibe.ch/lehre/winter99/einstein/Aufruf_Kulturwelt.pdf
"Ein berühmt-berüchtigtes chauvinistisches Manifest deutscher Professoren aus den ersten Kriegstagen."
  (Universität Bern, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte: Einführungskurs: Methoden und Fragen der Wissenschaftsgeschichte am Beispiel Albert Einsteins) 

Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches

"Wir Lehrer an Deutschlands Universitäten und Hochschulen dienen der Wissenschaft und treiben ein Werk des Friedens. Aber es erfüllt uns mit Entrüstung, dass die Feinde Deutschlands, England an der Spitze, angeblich zu unsern Gunsten einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preussichen Militarismus nennen. In dem deutschen Heere ist kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins, und wir gehören auch dazu. Unser Heer pflegt auch die Wissenschaft und dankt ihr nicht zum wenigsten seine Leistungen. Der Dienst im Heere macht unsere Jugend tüchtig auch für alle Werke des Friedens, auch für die Wissenschaft. Denn er erzieht sie zu selbstentsagender Pflichttreue und verleiht ihr das Selbstbewusstsein und das Ehrgefühl des wahrhaft freien Mannes, der sich willig dem Ganzen unterordnet. Dieser Geist lebt nicht nur in Preussen, sondern ist derselbe in allen Landen des Deutschen Reiches. Er ist der gleiche in Krieg und Frieden. Jetzt steht unser Heer im Kampfe für Deutschlands Freiheit und damit für alle Güter des Friedens und der Gesittung nicht nur in Deutschland. Unser Glaube ist, dass für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche "Militarismus" erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes."
Berlin, den 23. Oktober
1914


Unterzeichnet von mehr als 4000 Namen, beinahe dem gesamten Lehrkörper der 53 deutschen Universitäten und Hochschulen
Kommentar: Physiker im "Krieg der Geister“ http://mzwtg.mwn.de/arbeitspapiere/Wolff_01.pdf

Als Faksimile bei http://www.philoscience.unibe.ch/lehre/winter99/einstein/Erklaerung.pdf  
"Eine Erklärung, die von mehr als 4000, d.h. fast allen deutschen Hochschullehrern unterschrieben wurde."


Die beiden obigen Erklärungen wurden in Deutschland publiziert und an Universitäten und Hochschullehrer in ganz Europa verschickt. Auch Auguste Forel in Yvorne wurde damit bedient.

Offener Brief an seine Exzellenz Herrn Professor Dr. E. Haeckel, Jena

Sehr geehrter und lieber Herr Kollege!

  Sie haben mir soeben Ihren Aufsatz über "Weltkrieg und Naturgeschichte" mit einem Zirkular deutscher Universitäten vom September 1914, das an die ausländischen Hochschulen gerichtet ist, eingesandt. Letzteres Schriftstück protestiert mit grosser Entrüstung gegen das, was es systematische Lügen und Verleumdungen nennt, die bereits schon seit einigen Jahren gegen das deutsche Volk und das Deutsche Reich von seinen Gegnern geführt und jetzt bedeutend übertrieben werden.
  Er beschuldigt die fremden Länder, das deutsche Heer als eine Horde von Barbaren und Mordbrennern hinzustellen, während in Wirklichkeit es die "andern" seien, die den Krieg begonnen hätten, und Deutschland nichts anderes täte, als seine eigene Existenz und Kultur zu verteidigen: die andern hätten alles Unrecht auf ihrer Seite.
  Erlauben Sie mir als ohnmächtigem Beobachter in einem kleinen neutralen Land inmitten des Unglücks, das unser armes Europa trifft, Ihnen eine einfache Frage zu stellen: Wie können Sie die Behauptungen des obgenannten Zirkulars mit demjenigen in Übereinstimmung bringen, was Sie selbst in der Nummer des 13. November 1914 des "Monistischen Jahrhunderts", Seite 657, unter dem Aufsatz des Dr. Otto Juliusburger: "Europa unter deutscher Führung" geschrieben haben? Sie sagen dort unter anderm, es sei für die Zukunft Deutschlands und zugleich des verbündeten kontinentalen Europas höchst wünschenswert, London zu besetzen, Belgien unter Deutschland und Holland zu teilen, Deutschland den Kongostaat, einen grossen Teil der britischen Kolonien, die nordöstlichen Provinzen Frankreichs und die baltischen Provinzen Russlands zu geben. Sie fügen hinzu, Polen solle mit Österreich-Ungarn verbunden werden.
  Fügen wir hinzu, dass Ihre Kollegen Juliusburger, Ostwald und andere das Präsidium der zukünftigen Vereinigten Staaten Europas durch den Kaiser von Deutschland fordern und zudem Deutschland die militärische Sicherung jenes Staatenbundes geben möchten. Ihre Kollegen Professor Onken und Herr H. Peus behandeln ausserdem die kleinen Staaten, die sie für Schmarotzer der grossen Staaten halten und eher annektiert wissen möchten, mit grosser Verachtung. Endlich hat Ihr anderer Kollege, Hofrat Vierordt in Karlsruhe, in der "Badischen Landeszeitung" unter dem Titel "Deutschland hasse" ein seltsames Gedicht veröffentlicht. Dort empfahl er dem deutschen Heere, millionenweise seine Feinde zu töten und deren Ländereien in eine Wüste umzuwandeln.
  In Anbetracht dieser einfachen Tatsachen müssen Sie mir zugeben, dass unsere kleinen Länder allen Grund haben, für die Zukunft besorgt zu sein. Aber, nochmals gesagt, wie vereinbaren Sie Ihre eigenen Behauptungen im "Monistischen Jahrhundert" mit dem Inhalt des mir zugesandten Zirkulars? Sollen die ersteren Wirklichkeit werden, dann müssen alle fremden Länder, die Sie der Verleumdung beschuldigen, und selbst unsere kleine Schweiz gezwungen werden, bis zum letzten Blutstropfen gegen Ihre hegemonistischen Pläne sich zu verteidigen. Ein alter französischer Spruch sagt:
"Cet animal est bien méchant,
Quand on l'attaque, il se défend."*
  Habe ich Sie schlecht verstanden, dann biete ich Ihnen von vornherein meine vollständigen Entschuldigungen an, denn ich wünsche nur eine Sache: Gerechtigkeit und Frieden auf der Erde.
Ihr ergebenster Kollege gez. Dr. A. Forel


*Dies Tier ist bös und leicht beleidigt, weil's, angegriffen, sich verteidigt.

Dieser Brief an Haeckel wurde vielfach als Feindseligkeit gegen Deutschland aufgefasst. und brachte Forel in Deutschland in den Ruf eines Deutschenhassers.


"Wahr ist, dass ich den deutschen Feudalismus, samt Militarismus und Grössenwahn der Pangermanisten, aufs allerschärfste im Interesse des mir lieben und achtungswerten deutschen Volkes verurteile." (Auguste Forel, Rückblick auf mein Leben, S. 239 ff)

Aufruf an die Europäer

Während Technik und Verkehr uns offensichtlich zur faktischen Anerkennung internationaler Beziehungen und damit zu einer allgemeinen Weltkultur drängen, hat noch nie ein Krieg die kulturelle Gemeinschaftlichkeit des Zusammenarbeitens so intensiv unterbrochen, wie der gegenwärtige. Vielleicht kommt es uns allerdings auch nur deshalb so auffällig zum Bewusstsein, weil eben so zahlreiche gemeinschaftliche Bande vorhanden waren, deren Unterbrechung wir schmerzlich verspüren.
  Darf uns also dieser Zustand auch nicht wundernehmen, so wären doch diejenigen, denen jene gemeinsame Weltkultur auch nur im geringsten am Herzen liegt, doppelt verpflichtet, für die Aufrechterhaltung dieser Prinzipien zu kämpfen. Diejenigen aber, bei denen man solche Gesinnung vermuten sollte - also vornehmlich Wissenschaftler und Künstler -, haben bis jetzt fast ausschliesslich Dinge gesagt, die vermuten lassen, als ob mit der Unterbrechung der tatsächlichen Beziehungen auch selbst der Wunsch zu deren Fortsetzung geschwunden sei, sie haben aus einer erklärlichen Kampfstimmung heraus gesprochen, zum mindesten zum Frieden geredet.
  Solche Stimmung ist durch keine nationale Leidenschaft zu entschuldigen, sie ist unwürdig dessen, was bisher alle Welt unter dem Namen der Kultur verstanden hat, und sollte sie Allgemeingut der Gebildeten werden, so wäre das ein Unglück.
Aber nicht nur ein Unglück für die Kultur, sondern - davon sind wir fest überzeugt - ein Unglück dafür, wofür letzten Endes all diese Barbarei entfesselt ist; nämlich für den nationalen Bestand der einzelnen Staaten.
  Die Welt ist durch die Technik kleiner geworden, die Staaten der grossen Halbinsel Europa erscheinen heute einander so nahe gerückt, wie in alter Zeit die Städte jeder einzelnen kleineren Mittelmeerhalbinsel, und Europa - ja man könnte fast sagen die Welt - stellt bereits durch die rnannigfaltigsten Beziehungen eine in den Bedürfnissen und Erlebnissen jedes einzelnen begründete Einheit dar.
  Da wäre es doch wohl Pflicht der gebildeten und wohlwollenden Europäer, wenigstens den Versuch zu machen, um zu verhindern, dass Europa infolge seiner mangelhaften Gesamtorganisation dasselbe tragische Geschick erleidet, wie einst Griechenland. Soll auch Europa sich durch Bruderkrieg allmählich erschöpfen und zugrunde gehen?
  Denn der heute tobende Kampf wird kaum einen Sieger, sondern wahrscheinlich nur Besiegte zurücklassen. Darum scheint es nicht nur gut, sondern bitter nötig, dass gebildete Männer aller Staaten ihren Einfluss dahin aufbieten, dass - wie auch der heute noch ungewisse Ausgang des Krieges sein mag - die Bedingungen des Friedens nicht die Quelle künftiger Kriege werden, dass vielmehr die Tatsache, dass durch diesen Krieg alle europäischen Verhältnisse in einen gleichsam labilen und plastischen Zustand geraten sind, dazu benutzt werde, um aus Europa eine organische Einheit zu schaffen. Die technischen und intellektuellen Bedingungen dafür sind gegeben.
   In welcher Weise diese Ordnung Europas möglich ist, soll hier nicht erörtert werden. Wir wollen nur grundsätzlich betonen, dass wir fest davon überzeugt sind, dass die Zeit da ist, in der Europa als Einheit auftreten muss, um seinen Boden, seine Bewohner und seine Kultur zu schützen.
  Wir glauben, dass dieser Wille latent in vielen vorhanden ist, und wir wollen durch gemeinsames Aussprechen dieses Willens bewirken, dass er eine Macht werde.
  Zu diesem Zweck erscheint es vorerst notwendig, dass sich alle diejenigen zusammentun, die ein Herz haben für die europäische Kultur, die also das sind, was Goethe einmal vorahnend "gute Europäer" genannt hat, denn man darf die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihr gesammeltes Wort - auch unter dem Klange der Waffen - nicht ganz ungehört verhalle, vor allem, wenn unter diesen "guten Europäern von morgen" alle jene zu finden sind, die bei ihren gebildeten Standesgenossen Ansehen und Autorität geniessen.
  Aber es ist notwendig, dass die Europäer erst einmal zusammenkommen, und wenn - was wir hoffen - sich genügend Europäer in Europa finden, d. h. Menschen, denen Europa nicht nur ein geographischer Begriff, sondern eine wichtige Herzenssache ist, so wollen wir versuchen, einen solchen Europäerbund zusammenzurufen. - Der soll dann sprechen und entscheiden.
  Wir selber wollen hierzu nur anregen und auffordern, und so bitten wir Sie, falls Sie uns Gesinnungsgenosse und gleich uns entschlossen sind, dem europäischen Willen einen rnöglichst weitreichenden Widerhall zu verschaffen, Ihre Unterschrift zu senden.

Mitte Oktober 1914 - Verfasst von Georg Nicolai, Albert Einstein und Wilhelm Förster (Förster war auch auf der Liste der 93); zur Unterzeichnung bereit war nur noch Otto Bueck.


Als Faksimile: http://philoscience.unibe.ch/lehre/winter99/einstein/Aufruf_Europaer.pdf
"Das Gegenmanifest von Einstein u.a., das aber mangels Unterschriften nicht erschien.
"

(So ganz unaktuell ist dieser Text nicht..., meint der webmaster)

"Die Ausnahmestellung Einsteins zu derartigen chauvinistischen Ergüssen wird nicht dadurch geschmälert, dass einige der Unterzeichner ihre Zustimmung telefonisch und ohne Kenntnis des genauen Wortlauts gaben, wie Herneck behauptet, und später wieder zurückgezogen haben. Denn innerhalb weniger Tage wurde ein Gegenmanifest Aufruf an die Europäer in Umlauf gebracht, das die Unterschriften von C.F. Nicolai, W. Förster (reumütiger Unterzeichner von "An die Kulturwelt"), des Studenten O. Buek und von Albert Einstein trug. Da sich keine weiteren Unterzeichner finden liessen, verzichteten die Autoren Nicolai und Einstein auf eine Veröffentlichung. In ihrem Appell forderten sie die Wissenschaftler Europas auf, sich mit ihrem ganzen Ansehen für die rasche Beendigung des Völkermordes einzusetzen und im Bewusstsein ihrer sittlichen Verantwortung dafür einzutreten, dass der Krieg als Mittel der Politik aus dem Leben der Nationen verbannt wird. Durch die stürmische Entwicklung der Technik und des Verkehrs seien die Völker näher zusammengerückt; daher sollten sie in Frieden nebeneinander leben und sich nicht gegenseitig aufreiben in barbarischen Kriegen, die für alle Beteiligten nur Unheil brächten."
(Kommentar bei http://www.tu-harburg.de/rzt/rzt/it/einstein/node21.html Einstein gegen den Miltarismus)

August Forel: Das Elend Europas

Sehr traurig stimmte uns die unbesonnene Parteinahme vieler Schweizer für die einen oder andern der kriegführenden Mächte ... Es ist dies das klägliche Zeichen eines durch zu grosse Leidenschaft auf Abwege geratenen Militärpatriotismus... So schrieb ich am 1. Mai 1916 den ahnungsvollen Aufruf:

"Das Elend Europas wird täglich verzweifelter, aber der Hochmut der Ehrgeiz der Regierenden, der Fürsten und der Feldherren, verbunden mit den Schlichen ihrer unfähigen Diplomaten, zwingen leider die unschuldigen und betrogenen Völker und Soldaten, zu verbluten und zu verarmen, statt dass jene Herren durch Einkehr in sich selbst ihrem verbrecherischen Treiben endlich ein Ende bereiten würden. Die Hetzereien der Presse und ihre suggestive Einwirkung auf die Leidenschaften der Masse besorgen das übrige. Ich glaube, dass bald nur noch eine internationale sozialistische Revolution helfen kann und wünsche von ganzer Seele eine solche. Ich glaube fast, ich würde mit meinem einen gesunden Arm noch mitmachen, wenn ich könnte. Die Menschheit muss jene drei Drachen, die sie erwürgen: Kapitalismus, Militarismus und Alkoholismus, töten, oder sie geht an allen dreien zugrunde, das heisst sie schreitet rückwärts, statt vorwärts. Durch deren Bewältigung aber könnte sie mit Hilfe der Eugenik der Besten, der Sterilisierung der Schlechtern, ferner mit Hilfe von sozialer Bildung und Erziehung einer wohldisziplinierten, arbeitsamen Friedensarmee aller Männer und Frauen (siehe "Vereinigte Staaten der Erde" und "Assez détruit, rebâtissons") allmählich einen Aufstieg znr sozialen Wohlfahrt auf Grund eines supranationalen Friedens beginnen. Die Sozialisten sind als Menschen nicht besser als die andern, aber nur ihr Programm kann noch helfen. Leider hemmen die Konfessionen den sozialen Fortschritt, statt ihn zu fördern. Aber eine solche Zukunftshoffnung wie die eben erwähnte für unsere raubtierähnliche Menschenspezies Homo sapiens mag ich nicht aufgeben. Es ist meine letzte Hoffnung, mein geistiges Testament. Amen!
Doch vergebens suche ich die Laterne des Diogenes anzuzünden und mit ihr Europas und Amerikas Machthaber aufzuklären, ich finde unter ihnen bis heute keinen Mann. Vielleicht ersteht ein solcher noch! ..."
(Auguste Forel, Rückblick auf mein Leben, S. 247)


(Angesichts der heutigen Diskussion darf nicht übersehen werden, dass für Forel Sterilisation nur eine unter mehreren Massnahmen war, die aber nicht angewendet wurden.)
Schliesslich noch ein Gedicht eines englischen Dichters, der - wie viele andere - dem sinnlosen Morden zum Opfer fiel.)

The old Lie:
Dulce et decorum est
Wilfred Owen (1893-1918)

Bent double, like old beggars under sacks,
Knock-kneed, coughing like hags, we cursed through sludge,
Till on the haunting flares we turned our backs
And towards our distant rest began to trudge.
Men marched asleep. Many had lost their boots
But limped on, blood-shod. All went lame; all blind;
Drunk with fatigue; deaf even to the hoots
Of tired, outstripped Five-Nines that dropped behind.
Gas! Gas! Quick, boys!-An ecstasy of fumbling,
Fitting the clumsy helmets just in time;
But someone still was yelling out and stumbling
And flound'ring like a man in fire or lime...
Dim, through the misty panes and thick green light,
As under a green sea, I saw him drowning.
In all my dreams, before my helpless sight,
He plunges at me, guttering, choking, drowning.
If in some smothering dreams you too could pace
Behind the wagon that we flung him in,
And watch the white eyes writhing in his face,
His hanging face, like a devil's sick of sin;
If you could hear, at every jolt, the blood
Come gargling from the froth-corrupted lungs,
Obscene as cancer, bitter as the cud
Of vile, incurable sores on innocent tongues,-
My friend, you would not tell with such high zest
To children ardent for some desperate glory,
The old Lie: Dulce et decorum est
Pro patria mori.


Wilfred Owen (1893-1918)
Wilfred Edward Salter Owen was born on March 18, 1893. He was on the Continent teaching until he visited a hospital for the wounded and then decided, in September, 1915, to return to England and enlist. "I came out in order to help these boys-- directly by leading them as well as an officer can; indirectly, by watching their sufferings that I may speak of them as well as a pleader can. I have done the first" (October, 1918).

Owen was injured in March 1917 and sent home; he was fit for duty in August, 1918, and returned to the front. November 4, just seven days before the Armistice, he was caught in a German machine gun attack and killed - in one of the last vain battles of this war. He was twenty-five when he died.

The bells were ringing on November 11, 1918, in Shrewsbury to celebrate the Armistice when the doorbell rang at his parent's home, bringing them the telegram telling them their son was dead.

The Wilfred Owen Association
Verse von Owen hat Britten in sein Requiem eingebaut:
"Benjamin Brittens "War Requiem" entstand in den Jahren 1960/61 und wurde am 30. Mai 1962 anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten der wiederaufgebauten Kathedrale von Coventry dort uraufgeführt."
(Quelle)


Georg Herwegh: Sonett
Mai 1843

Dem Glanz der Throne bin ich wohl entronnen,
Und niemand sucht mich bei den Schmeichler Chören.
Der bunte Pomp, wie könnt' er mich betören!
Um keine kreis' ich eurer Tagessonnen.

Doch hab' ich wenig oder nichts gewonnen:
Nur allen kann die Freiheit angehören,
Die ganze Welt muss sich mit dir empören.

Sonst hast Du nur ein eitel Werk gesponnen.

Drum fühl ich tief: Ich bin kein freier Manu,
Und ob ich keines Fürsten Joch mehr schleppc.
So bleibt doch jeder Sklave mein Tyrann.

Ich flieh' umsonst Palast und Marmortreppe.
Und alles, was ich mir erobern kann,
Ist Einsamkeit in dieser Menschensteppe.


Anne Morelli
Die Prinzipien der Kriegspropaganda

1. Wir wollen keinen Krieg.
2. Das feindliche Lager trägt die alleinige Schuld am Krieg.
3. Der Feind hat dämonische Züge (oder: "Der Teufel vom Dienst").
4. Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele.
5. Der Feind begeht mit Absicht Grausamkeiten. Wenn uns Fehler unterlaufen, dann nur versehentlich.
6. Der Feind verwendet unerlaubte Waffen.
7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners aber enorm.
8. Unsere Sache wird von Künstlern und Intellektuellen unterstützt.
9. Unsere Mission ist heilig.
10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

zu Klampen Verlag, Springe, 2004

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Prof. Dr. Gustav von Bunge "Die Alkoholfrage"

August Forel: Arzt, Naturforscher, Sozialreformer
Beiträge zur Alkohol-Geschichte der Schweiz (Einleitung, Index)
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