«Die Huarä finden überall ein Loch»Yusuf Yesilöz’ Reise im Grenzkorps
Als einer, der nicht schweizerisch aussieht, wäre eine Reise mit sieben Grenzbeamten des Grenzkorps in einem Achtplatzabteil eines Zuges mein letzter Wunsch im Leben gewesen. Schon in den Neunzigerjahren habe ich geschworen, in der Woche des Autosalons Genf nicht Zug zu fahren, besonders die Strecke Zürich–Bern–Fribourg, wo ich beruflich tätig war, zu vermeiden. Dies, nachdem ich mit einer lauten Männergruppe eines Toggenburger Schützenvereins reiste und die Chemie unserer Blicke sich nicht vertrug. Mir gelang es ein paar Jahre, in der Pilgerwoche der Autoliebhaber diese Strecke auszulassen. Eines Morgens, im März 2004, bestieg ich den Zug in Winterthur, ohne zu wissen, dass der Autosalon Genf angesagt war. Ich lief zwei Wagen durch und sah überall das Schild: «Reserviert Zürich–Genf». Ich begab mich in den Speisewagen. Noch bevor ich die Türe durchquerte, kam mir der Tamile, den Gipfelikorb in der Hand, entgegen und sagte: «Alles reserviert, Autosalon Genf.» So lief ich noch einmal durch weitere Wagen. In einem Abteil stand über einem Platz kein Reservierungsschild. Erfreut, als ob meine Grossmutter auferstanden wäre, setzte ich mich hin. Dass der Zug so voll war, freute mich trotz der mühsamen Platzsuche. Auch ich mache mir Sorgen um ein allfälliges Defizit der SBB. Als Zugezogener und GA-Besitzer, mein einziger Luxus in der Schweiz, ertappte ich mich sogar, «unsere Bahnen» zu sagen. In Zürich stiegen die Männer ein, die die sieben anderen Plätze in meinem Abteil reserviert hatten. Die einen fanden ihre Sitze früh und benachrichtigten ihre Kollegen per Mobiltelefon, gaben durch, wo der Wagen, die reservierten Plätze waren. Diese sieben Männer begrüssten sich dann auf eine für mich unspektakuläre Art, und sie besprachen kurz, wer wo sitze. Das Ungewöhnliche aber war, dass jeder Mann, bevor er seinem Kollegen die Hand gab, zuerst mich begutachtete, als wäre dies eine Vorschrift. In knapp zehn Minuten konnte ich ihrem Plaudern entnehmen, dass sie Grenzkorps-Beamte waren. Sie fuhren zum Autosalon, um neue Dienstautos, Wagen mit Vierradantrieb, anzuschauen. Die Autos, die sie hätten, seien im Winter nicht geeignet. Einer der Männer erzählte, er werde im Zug dösen, weil er die letzte Nacht im Dienst gar nicht geschlafen habe. «Hast du die roten Lichter gezählt?» fragte ihn der Mann mit dem Bart neben mir, seine Kollegen lachten ob seiner Frage. Nein, er habe letzte Nacht einiges getan, unter anderem einen Schweizer an der Grenze kontrolliert, der in seinem Wagen mit «vier Chatze» von Deutschland in die Schweiz gefahren sei. Er fuhr fort: «Dä Cheib hat sich furchtbar geärgert, weil die Kontrolle eine halbe Stunde gedauert hat. Ich habe ihm gesagt, wenn er mit vier Ausländern in seinem Wagen reise, müsse er nicht verrückt werden, wenn ich ihn so lange anhalte!» Ein Jüngerer mit spitzigem Gesicht machte seinen Witz: «Du hättest ihm und seinen ‚Chatze‘ ja Kaffee anbieten und den roten Teppich hinlegen können.» Der neben mir mit grauem Bart, der, wie ich später bemerkte, in jedem Satz das Wort «huarä» gebrauchte, meldete sich: «Ich hätte mir für die Kontrolle jeder dieser Frauen eine Stunde genommen, dann wäre er richtig auf die Welt gekommen!» Der Erste erzählte weiter, dass alle vier Frauen schon deutsche Staatsbürgerinnen gewesen seien, aber «jede von einem anderen Loch der Welt». Ich hörte den Gesprächen interessiert zu, stellte mich aber so, wie wenn ich in meine farbige türkische Zeitung vertieft wäre. Ich ertappte immer wieder einen, der mich mit seinen Blicken musterte. Als ich jeweils den Kopf hob, wandte er seinen Blick schnell weg. Etwas später sagte ein Jüngerer dem Bart neben mir: «Der neben dir ist wahrscheinlich über die grüne Grenze gekommen, als du im Dienst warst!» «Die Huarä finden überall ein Loch, egal wie man die Grenze bewacht», antwortete der Bart. «Soll ich den mal kontrollieren?» fragte ein anderer den Bart. «Nein, du hast keinen Auftrag», sagte dieser. «Willst du eine Journalistenschar vor das Büro locken und berühmt werden?» In diesem Moment wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich war, zugegeben, bedrückt. Wie oft in solchen Situationen. Ich erlebte oft strenge Kontrollen, wenn ich aus dem Ausland in die Schweiz einreiste, obwohl ich seit rund zehn Jahren einen roten Pass vorzeigen kann. Es war jedes Mal sehr schmerzlich, vom ganzen Wagen als einziger kontrolliert zu werden, sofern kein anderer Artgenosse da war, und als potenziell illegal Einreisender oder gar Verbrecher verdächtigt zu werden. Ich wagte nicht, meine deutschsprachigen Zeitungen aus der Tasche zu holen. Ich wollte die Szene, in der ich der Fremde und sie die Landbesitzer waren, nicht entlarven. Ich schaute einen Moment aus dem Fenster. Der Zug liess Land- und Ortschaften zurück. Unter diesen Männern kam ich mir vor wie eine Kinoleinwand, und sie waren die Kinobesucher. Dann sagte ich mir, wenn ich schon einen Film zeige, kann ich auch erotische Szenen bringen. Das würde sicher Eindruck machen. Ich drehte die Seite zwei der grossformatigen türkischen Zeitung – bei der oft zwei Frauen, zweidrittel nackt, abgebildet werden – zu den sieben Männern. Es ging nicht lange, bis ich einen Polizisten hörte: «Lueg emal», sagte er, «jetzt hat er noch nackte Frauen in seiner Zeitung.» Der Bart: «Ja ja, die ,huarä‘ Türken haben schöne Frauen. Letzthin hat ja eine Halbnackte die Eurovision gewonnen.» «Ja du», sagte ein anderer lachend: «Zu uns schicken sie aber nur ihre Frauen mit Kopftuch.» Alle lachten, es schien, dass ihre Worte ihnen gefielen. Zum Glück stiegen später in Olten weitere Männer zu, Beamte des Basler Grenzkorps, die aber keine freien Sitze fanden und stehend mit meinen Männern plauderten. Das Gespräch kam, nachdem ein Basler fragte, ob die Ostschweizer auch im Zug jagen und einen Illegalen erwischt hätten, und Gelächter auslöste, auf die strenge Grenzkontrolle der Deutschen, die die Schweiz in die Enge treiben würden, damit «oises Land» der EU beitrete. Es entstand eine Diskussion um dieses Thema. Das war gut, so wurde ich in Ruhe gelassen. Als die Ansage: «Nächster Halt Fribourg» in drei Sprachen verkündet wurde, packte ich meine Sachen ein und stand auf. Zuerst dachte ich, einfach raus zu gehen, ohne Adieu zu sagen, dann entschied ich mich, dass ich den Film für mich doch beenden wollte. Stehend sagte ich: «No es schös Reisli mini Herre und uufwiderluoga!» Die Männer schauten still auf mich. Beim Gehen hörte ich den Bart, als er sagte: «De huarä Cheib hät ja alles verstande.» Und sie lachten wieder. (Yusuf Yesilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien/Türkei, kam 1987 als Flüchtling in die Schweiz. Heute lebt er als Schriftsteller, Kolumnist und Filmemacher in Winterthur. Seine beiden jüngsten, im Zürcher Rotpunktverlag erschienenen Romane: «Der Gast aus dem Ofenrohr» (2002) und «Der Imam und die Eselin» (2004). (sl)) |