Jacques Neirynck

 

Eröffnungsansprache des Alterspräsidenten Jacques Neirynck

zur ersten Sitzung der 46. Legislatur des Nationalrates
Bern, 6. Dezember 1999

Sehr geehrte Frau Bundespräsidentin
Sehr geehrte Frau Bundesrätin
Sehr geehrte Herren Bundesräte
Sehr geehrter Herr Vizepräsident
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler
Geschätzte Kolleginnen und Kollegen
Diese Sitzungseröffnung steht im Zeichen zweier durchaus bemerkenswerter Zufälle.
Ein rein kalendarischer Zufall will es, dass es heute auf den Tag genau sieben Jahre her sind, seit das Schweizer Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ablehnte. Dass dieses Thema sieben Jahre später die Wahlkampagne beherrscht hat, zeigt, wie weit diese Frage noch von einer allseits befriedigenden Antwort entfernt ist und wie sehr sie die öffentliche Meinung nach wie vor spaltet. Der zweite Zufall ist rein biologisch bedingt: Der Alterspräsident dieser Versammlung und provisorische Präsident dieser Sitzung ist erst vor kurzem in der Schweiz eingebürgert worden. Eine weitere Ironie des Schicksals ist wohl, dass er gebürtiger Brüsseler ist. Gibt es ein anderes Land, dessen Parlament sich von einem Fremdarbeiter präsidieren lässt?
An diesen beiden Zufällen zeigt sich, dass die Schweiz nicht fremdenfeindlich ist, wie uns gewisse oberflächliche Kommentare weismachen wollten, sondern dass sie nur nicht bereit ist, ihre politische Tradition in einer Anwandlung unbesonnener Hast zu opfern. Diese beiden Zufälle, diese Sinnbilder heben sich nicht gegenseitig auf, weil sie sich offensichtlich widersprechen. Sie werden dadurch nicht bedeutungslos, sondern stehen im Gegenteil für ein Paradox, eine versteckte Wahrheit, die unseren vorgefassten Meinungen so sehr zuwiderläuft, dass wir sie vorerst weder akzeptieren noch begreifen können. Die Wahrheit, von der hier die Rede ist, lässt sich nur erkennen, wenn wir sie aus Distanz betrachten und alle Gegensätzlichkeiten zu einem Ganzen verbinden. Die Schweiz tut sich schwer mit ihrem Verhältnis zu Europa, das sie offenbar weder heiraten noch abweisen kann. Ist die Europäische Union eine Bedrohung für unsere Freiheiten, unseren Föderalismus, unsere Neutralität? Oder könnte sie uns im Gegenteil Schutz bieten im harten internationalen Konkurrenzkampf?
Warum haben wir Angst, auf diese Fragen zu antworten?
Der Schweiz ging es noch nie so gut, noch nie war ihr Frieden ungestörter, noch nie war sie so weit entfernt von einer äusseren Bedrohung. Objektiv betrachtet dürften wir uns eigentlich nicht beklagen, denn gemessen an unserer Kaufkraft, unserer Lebenserwartung, unseren Arbeitslosenraten, unserer Ausbildungsqualität oder unseren wissenschaftlichen Erfolgen sind wir geradezu die Hätschelkinder dieses Planeten.
Doch trotz dieses Friedens und dieser Wohlfahrt erfüllt den Schweizer und die Schweizerin eine Besorgnis, die ebenso unbestimmt wie vielgestaltig ist.
Der Frieden und die Demokratie scheinen nicht mehr so gesichert wie wir einst glaubten. Das Geschehen auf dem Balkan führt uns vor Augen, dass der Kampf für diese Werte nie aufhören darf. Den Erwerbstätigen ist bewusst, dass ihr Arbeitsplatz eines Tages von anonymen Entscheidungsträgern aufgehoben werden könnte. Fusion, Umstellung, Abwanderung, Rationalisierung: hinter diesen Wörtern verbergen sich die traurigen und gemeinen Realitäten der Arbeitswelt. Die soziale Solidarität bröckelt. Die Krankenversicherung kommt immer teurer zu stehen, je weiter die medizinischen Fertigkeiten fortschreiten und die Lebenserwartung zunimmt. Die AHV wankt unter dem Ungleichgewicht der Generationen, das der Geburtenrückgang mit sich gebracht hat. Die Familien sind durch auseinanderfallende Beziehungen und den Generationengraben gefährdet. Auch die Umwelt im weitesten Sinne des Wortes macht uns Sorgen. Unsere Ernährung ist uns nach den wiederholten Skandalen suspekt geworden. Wir fühlen uns in unserer Gesundheit bedroht.
Alle diese Ängste haben trotz ihrer Ungleichartigkeit eines gemein: Sie zeigen, dass wir vom weltweiten Strom einer technischen Entwicklung erfasst worden sind, der sich unmöglich aufhalten oder lenken lässt - von der Globalisierung, um das Kind beim Namen zu nennen. Wir stehen auf der Schwelle zu einer Wettbewerbswelt, in der die Konflikte nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern an der Börse und in den Verwaltungsräten gelöst werden, wo die herrschenden Mächte uns ihr Business-Denken und ihre audiovisuelle Kultur aufdrängen, wo die Politik gegenüber der Wirtschaft immer schwächer und machtloser erscheint. Die Versuchung ist deshalb gross, sich abzukapseln und der Vergangenheit zu frönen, die uns im Rückblick immer tröstlicher vorkommt als sie es war, bevor sie erlebt wurde. Diese Schneckenhauspolitik leugnet die Aussenwelt immer dann, wenn sie bedrohlich erscheint. Wir können diese Zukunftsangst nur überwinden, wenn wir uns von den Trugbildern ab- und der Realität zuwenden. Wir können die Globalisierung sicher nicht aufhalten, indem wir ständig daran glauben, es gebe sie nicht oder sie gehe uns nichts an. Wäre es zum Beispiel nicht besser, wenn wir uns mit unseren Nachbarn zusammenschlössen, um im Globalisierungsstrom besser bestehen zu können? Der gesunde Menschenverstand spricht ebenso dafür wie die aktuelle Entwicklung. So hat die Einführung des Euro den Währungsspekulationen wahrlich ein Ende gesetzt. Hingegen wurde die Schweiz durch ihr Abseitsstehen verletzlich gegen äussere Entscheide, Druckausübungen und Erpressungen, die unseren Interessen wirklich geschadet haben.

Unabhängigkeit ist nur denkbar, wenn wir anerkennen, dass wir und unsere Nachbarn voneinander gegenseitig abhängig sind. Die ganze Kunst des schweizerischen Föderalismus besteht darin, ein Minimum an Souveränität abzugeben, um echte Autonomie auf bestmögliche Weise zu wahren. Um den äusseren Gefahren trotzen zu können, mussten sich seinerzeit die Dörfer und Städte zu Kantonen und die Kantone wiederum zur Eidgenossenschaft zusammenschliessen. Dies war ja auch der Sinn des Rütlischwurs. Wer alles für sich behalten will, läuft Gefahr, alles zu verlieren und es geht ihm letzten Endes so wie jenen Knausern, denen die ganzen Ersparnisse unter der Matratze geklaut werden, weil sie sich nicht getraut haben, sie auf die Bank zu bringen.Wir könnten in dieser Legislatur auf ein realistisches und pragmatisches Projekt zur Öffnung der Schweiz gegenüber der Welt hinarbeiten. Versuchen wir dieses Projekt zu umreissen.Die Schweiz bildet von ihrer geographischen Lage, ihrer Kultur und Geschichte her das eigentliche Herz des Kontinentes, der mehr und mehr zu einem einzigen Land wird, einem Land aber, in dessen Mitte ein tiefer Abgrund klafft. Stellen wir uns nur vor, was beispielsweise die Schweiz ohne den Kanton Luzern wäre ...
Europa wird also ausserhalb der Schweiz gebaut - aber nach dem Modell der Schweiz. Geht es beim Föderalismus und beim Subsidiaritätsprinzip nicht auch darum, so wenig als möglich zentral verwalten zu lassen? Die Europäische Union - weit davon entfernt, alles an sich raffen zu wollen - akzeptiert nur Beitritte, wenn beide Seiten sich damit einverstanden erklärt haben. Ihr Europaprojekt ist friedlich und neutral, ihr strenges Haushaltgebaren und ihr wirtschaftlicher Realismus sind darauf angelegt, dem Bürger Ruhe und Wohlfahrt zu sichern. Kurz: die Werte, die die Europäische Union verficht, unterscheiden sich in nichts von den Werten, die wir in den letzten sieben Jahrhunderten als erste entdeckt haben, aber seit sieben Jahren nicht mehr anerkennen wollen.
Wenn die Europäische Union schon daran ist, auf unserem Kontinent gewissermassen eine erweiterte Eidgenossenschaft zu errichten, müssten wir als Erfinder dann nicht mithelfen, dieses Werk zu vervollkommnen, dies umso mehr, als darin die verrücktesten Hoffnungen verwirklicht werden? Eignen sich unsere Beamten, unsere Politiker, unsere Parlamentarier nicht am besten dazu, dieses politische Gebilde zu beleben, in dem Germanen und Lateiner miteinander einhergehen? Natürlich werden wir nie dem Europa von früher beitreten, dem Europa der Kontinentalkriege, der Kolonialmächte und des Wirtschaftsimperialismus oder dem Europa der allmächtigen Staatsapparate und der Unterdrückungsideologien. Wir haben alles getan, um ein Beispiel vom Gegenteil zu geben. Ist es nicht möglich, dass die Schweiz sich nun Europa anschliesst, nachdem sich Europa der Schweiz angeschlossen hat? Wir brauchen nicht weit zu gehen, um denen zu begegnen, die sich auf unserem Weg befinden. Die Schweiz - unersetzlich, inspiriert, ein Prototyp der Geschichte - hat die Zukunft Europas ersonnen. Machen wir uns auf den Weg in diese Zukunft. Gehen wir, ohne zu hasten, aber gehen wir auch, ohne unnötig zu zaudern.
Wovor fürchten wir uns ausser vor unserem Schatten, der wie ein gigantisches, überdimensionales Abbild von uns selbst an der Wand prangt? Eine Schweiz mit kontinentalen Ausmassen? Davor schwindelt uns. Doch eine Schweiz, die sich fürchtet, gleicht einem Vater, der seinen Sohn beneidet, weil er so erfolgreich geworden ist.
Fragen wir uns nie, was Europa für uns tun kann, aber fragen wir uns stets, was wir für Europa tun können. Im 21. Jahrhundert wird Europa schweizerisch sein oder nicht sein.

(Bis 1999 eröffnete die 1. Sitzung des neugewählten Nationalrates der Alterspräsident, der Senior an Lebensjahren. Der Rat änderte das Reglement: nun eröffnet der Amtsälteste, der dauerhafteste Sesselkleber die Legislatur. 2003 war dies unverdienterweise der spätere Bundesrat Christoph Blocher.)

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