Prof. Dr. Jonas Fränkel
1879 bis 1965
Prof. Dr. Jonas
Fränkel
Er starb am 4. Juni 1965, 86jährig,
nicht ohne im hohen Alter den vollen Kelch bitterster Lebensenttäuschungen
gekostet zu haben. Fränkel war 1879 geboren zu Krakau in Galizien,
das damals noch zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte.
Er studierte zuerst in Wien und, bis zur Promotion, in Bern Philologie.
Von 1909 bis 1949 dozierte er an der Berner Universität deutsche
Literatur. 1964 zeichnete ihn die Schilleruniversität in Jena mit
dem Ehren Doktorat aus.
Fränkels wissenschaftliche Leistungen sind nur mit dem höchsten
Massstab zu messen, weil er an sich selbst die höchsten Anforderungen
stellte. Im Vorwort seines 16 Nummern umfassenden Essai Bandes «Dichtung
und Wissenschaft» zitiert er folgenden, der wahren Philologie den
Rang anweisenden Ausspruch Friedrich Schlegels: «Heil den wahren
Philologen! Sie wirken Göttliches, denn sie verbreiten Kunstsinn
über das ganze Gebiet der Gelehrsamkeit. Kein Gelehrter sollte bloss
Handwerker sein.» Und einen weiteren Ausspruch Friedrich Schlegels
als Motto der ersten Nummer dieses Buches: «Zur Philologie muss
man geboren sein, wie zur Poesie und Philosophie.
Diesem hohen Bild eines wahren Philologen möglichst zu entsprechen,
erhielt Fränkel bald zwei herrliche Gelegenheiten: einmal als Bearbeiter
der offiziellen vom Kanton Zürich veranstalteten Gottfried Keller
Ausgabe, also auf Grund des abgeschlossenen Nachlass eines Toten, den
Fränkel nicht das Glück gehabt hatte, persönlich zu kennen.
Zweitens als literarischer Vertrauter und Ratgeber Carl Spittelers, also
als Mitwirkender beim Entstehen neuer Großwerke der Poesie. Von
der eingenommenen hohen Warte waltete Fränkel aber auch als Richter
seines kritischen Amtes, unerbittlich, hart, oft auch mit Sarkasmen und
selbst Hohn seine Opfer bedenkend, ein Mann, der keine Kompromisse einging,
ein Feind aller lauwarmen Temperatur. So schuf er sich eine heimlich grollende
Gegnerschaft, die «Phalanx seiner verschworenen Feinde», die
nach Fränkels Überzeugung auch Spittelers Feinde waren. Schliesslich
endete in beider, Kellers und Spittelers, Fällen Fränkels Logosliebe
unglücklich. Zum grossen Schaden der Literatur oder um es in Spittelers
wie in Fränkels Sinne zu sagen: zum grossen Schaden der für
Poesie Empfänglichen!
Kellers Nachlass durchforschend und bearbeitend, wich Fränkel von
der landläufigen Auffassung ab, welche unter dem Dichter Keller vorab
den Schöpfer des «Grünen Heinrich» und der Novellen
versteht. Über diese nach Fränkels Urteil unsterblichen Prosawerke
erhob er jetzt Kellers Lyrik, womit er vorzüglich die beiden Gedichtbände
aus den Jahren 1846 und 1851 meint; denn diese «bilden die stärkste
Beglaubigung des Dichters Keller». Und: «in ihnen findet sich,
von drei Gedichten abgesehen (Abendlied, Die Entschwundene, Tod und Dichter)
bereits der gesamte Kronschatz Kellerscher Lyrik ausgebreitet».
Endlich: «heute stimme ich Ricarda Huch bei: es sind die schönsten
deutschen Gedichte». Wunderschön und darum immer wieder lesenswert
ist Fränkels Einleitung zum ersten Gedichtband.
Die Gesamtausgabe war auf über 20 Bände veranschlagt. Kaum aber
hielten die Leser Kellers die von Fränkel herausgegebenen 17 Bände
in Händen, lobpreisend, glücklich ob dem aus der Gruft des Nachlasses
gehobenen, von den Schlacken der «Textverwitterung» gereinigten
Schatz, so änderte sich die Scene, und Schatten zogen über die
Bühne: Fränkel wurde vom Kanton Zürich die Herausgeber
Befugnis entzogen und gar seine vor Gericht geltend gemachten Urheberrechte
abgewiesen! Dies soll uns hier nicht weiter beschäftigen, vielmehr
die Frage, wie es überhaupt zur Abdrängung Fränkels von
seinem so verdienstvollen Werke hat kommen können; was für ein
amusischer spiritus rector war hinter dem Kesseltreiben tätig? War
es vielleicht ausgelöst durch Fränkels Buch «Gottfried
Kellers politische Sendung», das zu schreiben er sich verpflichtet
fühlte, als das berüchtigte Nazitreiben auch in unserer Schweiz
mehr und mehr Bewunderer fand? Nun, es wäre auch einem nichtjüdischen
Schriftsteller nicht übel angestanden, hätte er das Buch geschrieben.
Mit Spittelers Werken machte Fränkel nur zögernd nähere
Bekanntschaft. Der Ton der biblischen Sprache im «Prometheus und
Epimetheus» gemahnte ihn zu sehr an den von ihm bewunderten Zarathustra
«und wirkte sich auf meine Aufnahmebereitschaft distanzierend aus»,
bekennt Fränkel in seinem Buch «Spittelers Recht, Dokumente
eines Kampfes». Bis er in einer entscheidenden glücklichen
Stunde doch am Pandorakapitel des Prometheus Feuer fing. «Seit jener
Stunde», bekennt Fränkel, «war ich an Spitteler verloren.
Es war die stärkste geistige Revolution, die mich in meinem Leben
heimsuchte». So angefeuert, las Fränkel auch den «Olympischen
Frühling», der damals nur in der ersten Fassung vorlag. Alsbald
liess er in Hardens «Zukunft» eine Studie über Spitteler
erscheinen, die so einsichtsvoll auf das Phänomen Spitteler einging,
dass dieser sofort in Fränkel seinen Bruder im Geiste erkannte und
ihn einlud, «ihm seine Sorgen und Nöte bei der Umarbeitung
des Olympischen Frühlings . . . zu schlichten». Die Mitwirkung
Fränkels an dieser Umgestaltung war intensiver und weitreichender
als es die Gegner Fränkels wahrhaben wollen. Spitteler gestand in
einem Vortrag, dass er den zweiten Teil «Hera die Braut» «ohne
die Fürsprache Fränkels» aus dem Werke habe beseitigen
wollen. Auch wo sein Jugendfreund Widmann Bedenken hatte, hielt Spitteler
an dem «hundertmal bewährten fabelhaft poetisch gescheiten
Urteil» Fränkels fest. Ohne dieses Urteil Fränkels besässen
wir denn auch die grandiose unvergessliche Hochzeitsnacht des Zeus im
II. Teil des Olympischen Frühlings nicht. An Emil Lohner in Bern
schrieb Spitteler am 19. Mai 1916: «Seit Jahren veröffentliche
ich kein Buch, das ich nicht zuvor der Begutachtung, keine Zeile, die
ich nicht vorher dem Urteil Dr. Fränkels unterbreitet hätte».
Dem hilfsbereiten «Berater zur Herstellung des Buches» widmete
Spitteler das erste Exemplar des «Prometheus der Dulder»,
der wenige Wochen vor Spittelers Tod erschien. Und Dr. Bodmer, dem Präsidenten
des Lesezirkels Hottingen, gegenüber erklärte Spitteler, Fränkel
hätte von ihm ein für allemal jede Vollmacht erhalten, in seinen
Angelegenheiten alles zu tun, was er für gut finde. Dergleichen Zeugnisse
und Erklärungen Spittelers finden sich immer wieder in Briefen.
Um endlich eine Gesamtausgabe der Werke Spittelers zu ermöglichen,
bemühte sich Fränkel mit schliesslichem Erfolg vier Bändchen
(«Literarische Gleichnisse», «Friedli der Kolderi»,
«Gustav», ««Balladen») von den Rechten eines
Zürcher Verlegers zu befreien.
Auch dass Spitteler 1919 den Nobelpreis erhielt, war der unermüdlichen
Initiative Fränkels mitzuverdanken.
Die hingebungsvolle Mitarbeit Fränkels zeitigte allmählich ein
so intimes Vertrauensverhältnis, dass Spitteler seinem Freund Aufzeichnungen
aus seiner Jugendzeit und sogar Geheimdokumente überliess und Seelengeheimnisse
preisgab, die er sonst keinem Menschen, selbst seinem Jugendfreund Widmann
nicht verraten hatte. Es ergab sich von selbst, dass Fränkel Spittelers
Biograph werden sollte.
Alles in allem: Spitteler durfte am 29. Dezember 1924 ruhig im Bewusstsein
sterben, seine wichtigsten Angelegenheiten (Gesamausgabe und Biographie)
den treusten Händen anvertraut zu haben. Aber: ein Testament' das
dies alles sicherstellte auf den fall' dass eines Unglückstages die
böse Mitwelt darüber kommen sollte, hinterliess er leider nicht.
Die dankbare Freundschaft von Haus zu Haus hielt zwar noch 2½ Jahre
vor, dann wendete sich das Blatt, die Erbinnen fingen an, selbst zu handeln,
sich mit einem berühmten Fürsprecher zu verbinden, durch denselben
an Fränkel das Verbot ergehen, sich nicht weiter um die bereits Erfolg
versprechende Gewinnung eines Verlegers für die Gesamtausgabe zu
bemühen und boten den Nachlass dem Bund als Geschenk an. Die Aussichten
Fränkels, seine Spitteler gegebenen Versprechen einlösen zu
können, verschlechterten sich von Bundesrat zu Bundesrat. Schliesslich
wurde Fränkel der Zutritt zum Nachlass, an dem er selber während
15 Jahren massgeblich mitgearbeitet hatte, verweigert. Als letzte Hoffnung
verblieb das zur Schlichtung der Differenzen bestellte Schiedsgericht,
bestehend aus Bundesrichtern. Fränkel verlor! Dies alIes ging freilich
nicht so schnell vonstatten, wie es nach dieser Schilderung scheinen möchte.
Es war vielmehr für Fränkel ein aufreiben
der Krieg, der länger dauerte als der berühmte trojanische.
Behalten durfte er nur noch das ruhige Gewissen, für seinen toten
Freund alles getan zu haben, was in dieser gebrechlichen Welt möglich
war. Das Schiedsgericht handelte einfach formalistisch: es suchte im Nachlass,
was es nicht fand, ein Testament, und fand, was es nicht suchte, eine
Unzahl von Willenskundgebungen desjenigen, um den es doch ging: Spittelers.
Und Bundesrat Etter? War es ihm nicht einfach zuviel zugemutet, dass ihm
das Schicksal der Werke «des grossen Heiden hinter der Hofkirche»
mehr als billig sollte am Herzen gelegen haben? Sie alle: die Erbinnen,
der Fürsprecher, der Bundesrat, das Schiedsgericht, sie alle waren
schliesslich die Vollstrecker eines fremden Willens. Wer war hier wieder
der amusische spiritus rector?
Ich bin überzeugt, dass viele Leser Kellers und Spittelers' Fränkels
Andenken in Ehren halten werden und ihm den Dank ins Grab nachsenden dafür,
dass er sich für Keller und Spitteler in ihrer wahren Gestalt so
mit Mut und Ausdauer eingesetzt hat.
Albert Malär.
(Quelle: Schweizerischer Republikanischer Kalender, 1966
- Begründet von Johann Baptist Rusch)
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