Entwicklungen des Alkoholkonsums, der Alkoholkonsummuster und Alkoholprobleme in der Schweiz


Fact-sheet, von Richard Müller, Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme in Lausanne, an der WHO Ministerkonferenz "Jugend und Alkohol" in Stockholm (19. - 21. Februar 2001) < jetzt im web.archive> vorgestellt.

1. Politischer Hintergrund: Die Wiedergeburt des Nachtwächterstaates und die "neue" Alkoholpolitik in der Schweiz

Die Wiedergeburt des Nachtwächterstaates verknüpft mit der Globalisierung der Märkte und der Abschaffung der Handelsgrenzen haben ihren Niederschlag auch in der schweizerischen Alkoholpolitik gefunden: Alkohol wird zu einem Konsumgut, wie jedes andere auch. Ein Grossteil der bereits im 19. Jahrhundert entstandenen Gesetze, welche die Erhältlichkeit und den Zugang zu alkoholischen Getränken aber auch deren Vermarktung beschränkten, sind denn auch abgeschafft worden oder ihre Abschaffung wird< diskutiert. Dass dabei die toxischen und abhängigkeitsbildenden Eigenschaften sowie das soziale Destruktionspotenzial des Alkohols vernachlässigt werden, wird mit dem Einwand abgetan, Individuen seien für sich selbst verantwortlich und überdies sei moderater Alkoholkonsum - wie die neuste Forschung bestätigt hat - gesund oder wenigstens nicht schädlich.

Die Liberalisierung der schweizerischen Alkoholpolitik fand sowohl auf eidgenössischer wie auch auf kantonaler Ebene statt:

o Die sogenannte „Bedürfnisklausel", die ein spezifisches Verhältnis von Gaststätten pro Einwohner vorsah, bevor eine Bewilligung für eine Gaststätte erteilt werden konnte, wurde in allen Kantonen, ausser einem, abgeschafft.
o Die früher vom Gesetz verlangte spezielle Ausbildung für Gaststätteninhaber ist ebenfalls in vielen Kantonen abgeschafft worden.
o Aufgrund der Liberalisierung von Planungsreglementen können Kneipen überall eröffnet werden. Praktisch jeder kann eine Kneipe eröffnen, wo immer er will. Als Folge davon hat die Gaststättendichte in der Schweiz trotz der steigenden Konkurrenz zugenommen.
o Die Öffnungszeiten für Gaststätten sind in vielen Kantonen liberalisiert worden.
o Das Alkoholgesetz, welches auch den Spirituosenmarkt regelt, ist liberalisiert worden. Bestimmungen, wonach beispielsweise Spirituosen getrennt von anderen alkoholischen Getränken verkauft werden mussten, sind aufgehoben worden. Dies hatte zur Folge, dass alkoholische Mischgetränke neben den alkoholfreien Getränken verkauft wurden.
o Die Aufhebung des Werbeverbotes für alkoholische Getränke in den elektronischen Medien steht gegenwärtig zur Debatte.
o Der Weinimport wurde ebenfalls weitgehend liberalisiert, so dass die Preise mittelfristig sinken werden.
oDie wahrscheinlich wichtigste Änderungen auf dem Gebiet der Alkoholpolitik war wohl die Einführung des Einheitssteuersatzes auf einheimischen und importierten Spirituosen vom 1. Juli 1999. (Die Einheitsbesteuerung von einheimischen und importierten Spirituosen ist eine Verpflichtung, die aus der Unterzeichung des WTO-Abkommens durch die Schweiz erfolgte. Obwohl die Gesundheitslobby einen konsumneutralen einheitlichen Steuersatz verlangte, hat die Regierung auf Druck des Parlaments, sich grösstenteils den Forderungen der Spirituosenindustrie gefügt. Als Konsequenz davon sind die Einzelhandelspreise für importierte Spirituosen bis zu 50% gesunken. Die Preise von lokalen Produkten blieben mehr oder weniger konstant, die geringfügige Steuererhöhung wurde bei diesen Produkten durch eine Reduktion der Gewinnmarge wettgemacht.

2. Marketingtrends zu alkoholischen Getränken

Lebensstil Werbung für Spirituosen ist in der Schweiz nicht erlaubt. Aber grossangelegte Werbekampagnen der Bierindustrie verstärken das positive Bild und vermitteln verlockende Anspielungen wie sexuelle Attraktivität, Kameradschaft unter Gleichaltrigen und ungeheuren Spass.
Der Schweizer Alkoholmarkt hat in den letzten Jahren viele Neuerungen erfahren, nicht zuletzt mit der Lancierung eines grossen Angebotes von neuen Produkten, die vorwiegend auf Jugendliche abzielen. Neue Sorten von alkoholischen Mischgetränken (Alcopops, alkoholhaltige Energiedrinks) und Bier mit verschiedensten Geschmacksorten wurden erfolgreich vermarktet.

3. Trends zum Gesamtkonsum

Der Weinkonsum hat in der Schweiz seit Jahren abgenommen. 1999 hat der Trend umgeschlagen und der Konsum steigt wieder an.

Weinkonsum in der Schweiz
Jahr
Total (Liter)
per capita
p.c. >14 Jahre
1999/2000
295 821 900
41,5
50,3
1998/1999
294 642 600
41,4
50,1
1997/1998
291 437 700
41,1
49,8
1996/1997
293 047 300
41,4
50,3
1995/1996
291 691 400
41,3
50,2

Auch der Bierkonsum hat während vielen Jahren abgenommen. In den letzten fünf Jahren hat sich der Konsum zwischen 58 und 59 Litern p.c. eingependelt.

Bierkonsum in der Schweiz
Jahr
Total (Liter)
per capita
p.c. >14 Jahre
1999/2000
419 470 400
58,9
71,4
1998/1999
421 199 300
59,1
71,7
1997/1998
427 744 800
60,3
73,1
1996/1997
424 916 800
60,0
72,9
1995/1996
430 527 300
61,0
74,0

Die Konsequenzen der Preisänderung für Spirituosen bezüglich Kaufverhalten, Konsum und Volksgesundheit werden zur Zeit in einer begleitenden, grossangelegten Evaluations-Studie untersucht. Die Resultate der Studie zeigen beim Spirituosenkonsum eine Zunahme von 20% nach 6 Monaten, aber von nur 10% nach 9 Monaten seit der Herabsetzung der Preise.

4. Trends zu Konsummustern

Ein bedeutendes und positives Verhältnis zwischen der Höhe des Konsums und der Schadenswahrscheinlichkeit ist fast weltweit festgestellt worden. Aber es gibt eine beträchtliche Anzahl von "risikoreichen" Rauschtrinkern in der Schweiz (mit mehr als 4 (Schweiz) Standarddrinks von 12 g pro Gelegenheit) aber deren durchschnittlicher Tageskonsum als "risikoarm" eingestuft wird. Rauschtrinken spielt eine wichtige Rolle bei den alkoholbedingten Problemen wie chronisches Trinken.
Durchschnittlicher Konsum und episodisches Rauschtrinken in der Schweiz
Rauschtrinken
Männer
Frauen
 
>30 g täglich
<30 g täglich
<20 g täglich
<20 g täglich
nie
76
63
90
80
1-3 mal
12
11
4
9
4+ mal
12
27
6
11
Total
100
100
100
100


o 20% der Bevölkerung weisen ein risikoreiches Trinkmuster nach, d.h.
sie trinken 3 oder mehr Standarddrinks (12 g) täglich, oder mindestens zweimal pro Monat mehr als 4 Standarddrinks pro Gelegenheit, oder kombinieren beide Muster.
o Die in der Schweiz wie auch in vielen anderen Ländern durchgeführte Studie über das Gesundheitsverhalten von Schuldkindern hat einen klaren Trend von Jugendlichen zum Rauschtrinken aufgezeigt.

5. Trends zu Alkoholproblemen

o Eine neue Studie ergibt die folgenden Schätzungen zu alkokolbedingten Problemen:
Anzahl Alkoholiker: 300'000 Personen
Anzahl alkoholbedingter Todesfälle: 2000
Anzahl verlorener Lebensjahre: 30'000
o Die Anzahl der alkoholbedingten Verkehrsunfälle, im besonderen der fatalen alkoholbedingten Unfälle hat in den letzten 3 Jahren zugenommen.
o Eine neue Schätzung der sozialen Kosten des Alkoholkonsums ist im Gange.

6. Trends zur Alkoholprävention

Alkoholpolitik im Nachtwächterstaat

Die entscheidende Frage, der sich die Befürworter der Alkohol- und Gesundheitspolitik stellen müssen, konfrontiert mit einem Staat, der seine Rolle immer mehr auf die Garantie von Frieden und Sicherheit beschränkt und vermeidet sich in die Entscheidungen der Bürger einzumischen, ist: "Welches sind die verbleibenden Alternativen einer gesundheitsorientierten Alkoholpolitik im Nachtwächterstaat?" Drei Optionen stehen im Einklang mit der Ideologie des unbeschränkten Individualismus:
1) Schutz der Jugend,
2) aufgeklärte Bürger
3) Strategien zu Kurzinterventionen.

Schutz der jungen Leute

o Alcopops vom Markt verbannen
o Die eidgenössische Alkoholverwaltung hat das Schweizerische Alkoholgesetz so interpretiert, dass sie die Alcopops dem Bundesgesetz unterstellte und mit hohen Steuern belastete. Als Folge davon verschwanden die Alcopops vom Schweizer Markt.
o Anstrengungen das Mindestalter für den Kauf gesetzlich zu verankern
o Erhebliche Anstrengungen wurden von der Eidg. Alkoholverwaltung und von nicht staatlichen Organisationen unternommen, um das Mindestalter für den Kauf von alkoholischen Getränken zu vereinheitlichen und zu verankern. Das gegenwärtige Gesetz verbietet den Verkauf von Spirituosen an Personen unter 18 Jahren. Der Verkauf von vergorenen Getränken ist in den kantonalen Gesetzen geregelt. Die meisten Kantone erlauben keinen Verkauf von Bier und Wein an Personen unter 16 Jahren.
o Eine Revision des Bundesgesetzes ist im Gange, um kantonale Bestimmungen zu vereinheitlichen und das Mindestalter für den Kauf von Bier und Wein ab 16 und für Spirituosen ab 18 Jahren zu verankern und zwar im ganzen Land.
o Auch das Schweizerische Strassenverkehrsgesetz ist in Revision. Nach dem neuen Gesetz sollen verdachtsfreie Atemlufttest bei Fahrzeuglenkern legal sein.
o Anstrengungen der Alkoholindustrie: Erstmals in ihrer Geschichte anerkennt die Schweizer Alkoholindustrie eine Verantwortung und startet in Zusammenarbeit mit Präventionsorganisationen eine Kampagne, um das Rauschtrinken bei den Jugendlichen zu stoppen.

Informieren der Bürger und Bürgerinnen

o Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, hat die Schweizer Regierung eine beträchtliche Summe für eine Informations- und Sensibilisationskampagne bereitgestellt. „Alles ist Griff" ist der Name eines grossen Alkoholprogrammes. Hauptziel der Kampagne ist, die Rauschtrinkmuster bei der gesamten Bevölkerungen zu senken.
Das Alkoholprogramm schliesst den Ansatz der Gemeindeprävention mit ein und soll die Behörden motivieren, ein alkoholpolitisches Programm einzuführen.

Kurzinterventionen

o Strategien für Kurzinterventionen haben sich als besonders wirksam erwiesen, um Risikotrinken zu vermindern. Als zusätzlicher integrierter Teil von "Alles im Griff" wurde deshalb eine Kampagne gestartet, um Allgemeinärzten die Anwendung von Kurzinterventionen zu vermitteln.

Nationaler Alkoholaktionsplan

Gemäss den Richtlinien der WHO Europa hat die Eidgenössische Kommission für Alkoholfragen einen Nationalen Alkoholaktionsplan erarbeitet, mit zielgerichteten Aktionen auf Bundes-, Kantons- und Gemeindeebene. Der Aktionsplan ist dem Bundesrat zur weiteren Vernehmlassung unterbreitet worden. (Aktionsplan)

Autor: Richard Müller, SFA-ISPA, Lausanne (5.2.01)


Alkoholkonsum in der Schweiz 1880-2004
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