Schweizerische Alkoholpolitik - wohin?Richard MÜLLER, Dr. phil., Direktor, SFA, Lausanne und
Katharina MÜLLER, dipl. Heilpädagogin/dipl. Supervisorin, Bern
Aus "abhängigkeiten" 1/97, Zeitschrift der SFA und von A+S Die schweizerische Alkoholpolitik steht ganz im Zeichen der Liberalisierung
und Deregulierung sowie der Eurokompatibilität. Dabei verliert das Produkt
"Alkohol" zunehmend seinen Sonderstatus - es wird zum normalen Konsumgut.
Alkoholische Getränke werden günstiger und unbeschränkt zugänglich. Die
aus dem Alkoholzehntel den Kantonen zufliessenden finanziellen Mittel
für Vorbeugung und Behandlung von Abhängigkeiten werden sinken. Der der
Alkoholabhängigkeit zugeordnete Krankheitswert wird zunehmend aberkannt.
Angesichts dieser Entwicklungen ist die Formulierung eines alkoholpolitischen
Konzeptes dringlich. Zehn Postulate für eine solche Politik werden vorgestellt.
Unter anderem wird eine sozialkostendeckende Weinsteuer gefordert, deren
Ertrag den Sozialwerken, aber auch der präventiven sowie der therapeutischen
Arbeit zufliessen soll. Alkohol seit alters ein besonderes GutAlkohol ist ein besonderes Gut - für die einen ein Genuss- und Nahrungsmittel, für die anderen Rausch- und Betäubungsmittel. Unzählig sind deshalb auch die Versuche des Staates, den Alkoholkonsum seiner Bürger und Bürgerinnen zu beeinflussen. So besteht bereits im Mittelalter in europäischen Staaten eine Vielzahl von Sittenmandaten, die das Alkoholtrinken regulieren. Alsbald entdeckt auch der Fiskus, wie einträglich Alkoholsteuern sein können. Die Besteuerung alkoholischer Getränke, die Einfuhrzölle auf Rohmaterialien und Lizenzgebühren erweisen sich als so ertragreich, dass die meisten europäischen Staaten im 17. Jahrhundert auf Produktion und Konsum vorwiegend hochprozentiger Alkoholika Abgaben erheben. Erst die Mässigkeits- und Abstinenzbewegung als Reaktion auf wachsende Alkoholprobleme schaffte im 19. Jahrhundert die politischen Voraussetzungen für Massnahmen, die sich nicht mehr vorwiegend an den Steuererträgen des Staates, sondern sich zusehends an moralisch-sittlichen und später auch an volksgesundheitlichen Zielsetzungen orientierten. In der Schweiz ist es ebenfalls weitgehend ein Verdienst der Temperenz- und Abstinenzbewegung, dass 1985/86 die erste eidgenössische Alkoholgesetzgebung mit einer klaren gesundheitspolitischen Zielsetzung erlassen werden konnte. Diese Zielsetzung, die sich allerdings auf die gebrannten Wasser beschränkt, wird heute zunehmend in Frage gestellt. Im Zuge der Liberalisierung und Globalisierung der Märkte wird dem Staat die Legitimation in die Präferenzen von Bürger und Bürgerinnen einzugreifen, mithin den Zugang zu alkoholischen Getränken zu steuern, entzogen. Der "Nachtwächterstaat" feiert Wiederauferstehung, nicht solidarisches Tragen der Lasten steht im Vordergund, sondern vielmehr der Erfolg des autonomen Individuums.
Alkohol heute - ein normales KonsumgutDie schweizerische Alkoholpolitik steht ganz im Zeichen der Liberalisierung und Deregulierung sowie der Eurokompatibilität. Dabei verliert das Produkt "Alkohol" zunehmend seinen Sonderstatus - es wird zum normalen Konsumgut.- Auf der Ebene des Bundes ist beabsichtigt, im Zuge der Eurokompatibilität einen Ein-heitssteuersatz für Spirituosen festzulegen. Ausländische Erzeugnisse werden stark verbilligt, inländische etwas teurer. Die Erträge der Eidgenössischen Alkoholverwaltung werden sinken und damit auch der an die Kantone ausgeschüttete Alkoholzehntel. - Das Gatt-Abkommen beschränkt die Subventionierung des Obst- und Kartoffelanbaus auf die nächsten 6 Jahre. Der Marktzutritt ausländischer Produkte wird verbessert. Eine Senkung der Verwertungskosten und niedrigere Produzentenpreise sind unvermeidlich. - Die Kontingentierung des Weinimports wird abgeschafft. Der Konkurrenz- und mithin auch der Preisdruck auf inländische Weine wächst. - Die Pflicht des Bundes, die Überschussproduktion an Kernobstbranntwein zu übernehmen, wird in ein Recht umgewandelt. Angesichts der notorischen Ebbe der Bundeskasse wird er von diesem Recht wohl spärlich Gebrauch machen. - Die Trennung der Verkaufsflächen für gebrannte und übrige alkoholische Getränke wird abgeschafft. - Das Verbot, in der Werbung Preise von Spirituosen anzugeben, wird gelockert. - Kartoffeln dürfen künftig gebrannt werden. - Auf der Ebene der Kantone steht insbesondere die Bedürfnisklausel zur Debatte. In den meisten Kantonen ist sie mittlerweile abgeschafft worden. - Im Zuge der Deregulierung stehen auch der "Sirupartikel", die obligatorische Wirteausbildung sowie die Liberalisierung der Öffnungszeiten von Gaststätten zur Diskussion. Zum Teil soll das Gastgewerbegesetz ersatzlos gestrichen werden.
Was bringt die Zukunft?Die oben skizzierten alkoholpolitischen Gegebenheiten zeigen die künftigen Tendenzen klar auf:1. Die Kontrollfunktion des Staates über alkoholische Getränke wird zunehmend negiert. Weder die neurotoxische noch die cytotoxische und die abhängigkeitsbildende Wirkung werden berücksichtigt, ebenso wenig die Tatsache, dass die Schweiz trotz abnehmenden Alkoholverbrauchs immer noch zu den Hochkonsumländern gehört und Alkohol, gemessen an den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Konsums, nach wie vor in der Schweiz als "Droge Nummer eins" bezeichnet werden kann. 2. Alkoholische Getränke werden günstiger und unbeschränkt zugänglich. 3. Individualisierung, Desolidarisierung und die Tendenz zur 2-Klassen-Gesellschaft werden dazu beitragen, dass der Alkoholkonsum und die Alkoholprobleme, insbesondere aber der Elendsalkoholismus wieder zunehmen. Zugleich wird dem Phänomen der Abhängigkeit der "Krankheitswert" mehr und mehr aberkannt; Kranken- und Invaliditätsversicherung schränken ihre Zahlungen in Abhängigkeitsfällen ein. 4. Die finanziellen Mittel, die Kantonen und Gemeinden für die Vorbeugung und Behandlung von Alkoholproblemen zur Verfügung stehen, werden abnehmen. Probleme, die im Umgang mit alkoholischen Getränken entstehen, werden privatisiert.
Zehn Postulate für eine kohärente AlkoholpolitikVor dem Hintergrund des immer lauter erschallenden Rufs nach dem Nachtwächterstaat erstaunt es nicht, dass der Bund bis anhin kein überzeugendes alkoholpolitisches Massnahmen-Programm vorgelegt hat, dies obwohl auch die Schweiz die europäische Alkoholcharta unterzeichnet hat, die eine Reihe von Postulaten zur primären, sekundären und tertiären Alkoholprävention umfasst. Die dem Bund für die Prävention zur Verfügung stehenden Mittel fliessen fast ausschliesslich dem Bereich der illegalen Drogen zu. Auch die Kantone tun sich schwer, in ihren Präventionskonzepten den legalen Drogen den ihnen gebührenden Platz zuzuweisen.Eine kohärente schweizerische Alkoholpolitik tut not. Sie müsste wenigstens die zehn folgenden Postulate berücksichtigen: 1. Einführung einer sozialkostendeckenden Weinsteuer Kein alkoholpräventives Konzept kommt umhin anzuerkennen, dass alkoholische Getränke keine gewöhnlichen Konsumgüter sind, sondern vielmehr Probleme verursachen, deren Kosten immens sind. Die sozialen Kosten des Alkoholkonsums werden heute auf drei Milliarden Franken geschätzt. Die Alkoholkonsumenten decken diese Kosten, die sie verursachen, bei weitem nicht. Das widerspricht dem Verursacherprinzip und belastet private und öffentliche Haushalte aller Stufen. Die heutige Alkoholgesetzgebung belegt lediglich den Branntwein mit einer gesundheitlich begründeten Sondersteuer. Bier und Wein werden heute von der Alkoholgesetzgebung nicht berührt, obschon ihr Konsum 80 Prozent des Gesamtalkoholverbrauchs ausmacht. (Anteile am Gesamtkonsum: Branntwein 20%, Wein 50%, Bier 30%). Die Bundesverfassung beschränkt die Kompetenzen des Bundes bei der Ausgestaltung der Biersteuer. Wein wird nicht besteuert. Der in Wein und Bier enthaltene Alkohol ist chemisch gleich wie derjenige von Spirituosen, nur ist die Konzentration wesentlich geringer. Steuergerechtigkeit erfordert, dass das gleiche Produkt unabhängig von seiner Erscheinungsform fiskalisch gleich behandelt wird. Eine Sozialkostensteuer von nur einem Franken pro Liter Wein ergäbe einen Ertrag von etwa 300 Millionen Franken. Der Reinertrag könnte entsprechend jenem der Spirituosensteuer zu 90 Prozent der Sozialversicherung und zu 10% den Kantonen zugesprochen werden. Eine Weinsteuer wäre überdies eurokompatibel und eine Mengenbesteuerung auf Wein und Bier verminderte zudem den Kostenvorteil billiger ausländischer Importware im Vergleich zu teureren inländischen Produkten. Die Absatzchancen der einheimischen Gewächse würden damit erhöht. 2. Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber Alkoholproblemen Der Propagierung risikoarmer Trinkmuster kommt in einer Gesellschaft, in der so viele zuviel trinken, insofern grosse Bedeutung zu als - wie Erhebungen zeigen - die Bevölkerung nur ungenügend über risikoarme Konsummuster informiert ist. 3. Intensivierung der Alkoholerziehung bei Jugendlichen Zwar ist die Alkoholerziehung Jugendlicher den Nachweis ihrer Wirkung weitgehend schuldig geblieben, gleichwohl ist wichtig, bereits Heranwachsende auf die Risiken sowohl chronischen als auch akuten Alkoholkonsums hinzuweisen. 4. Verbesserung der Früherkennung Die Früherkennung von Alkoholproblemen hat sich vor allem in der ärztlichen Praxis als höchst effiziente Form der sekundären Vorbeugung erwiesen, insofern Arzt oder Ärztinnen wissen, wie sie Patienten mit Alkoholproblemen zu behandeln haben. Selbst minimale Interventionen können dabei erfolgreich sein. Allerdings besteht zwischen Arzt und Patient nur zu oft ein stillschweigendes Übereinkommen, vorliegende Alkoholprobleme nicht anzusprechen. Auch in Betrieben hat sich gezeigt, dass viele Folgekosten vermieden werden können, wenn die Früherkennung von Mitarbeitern mit Alkoholproblemen systematisch gefördert und adäquate Hilfe geleistet wird. 5. Verbesserung der Verkehrssicherheit Nach wie vor sind 20% der tödlichen Verkehrsunfälle alkoholbedingt. Der Reduktion dieser Unfälle kommt hohe Priorität zu. Die Kombination von Autofahren und Alkoholtrinken gehört - wie Umfragen zeigen - zu den sozial akzeptierten Verhaltensweisen. Weil alkoholisierte Lenker häufig nicht aufgrund äusserer feststellbarer Merkmale erkannt werden können, muss die Polizei die Möglichkeit haben, systematische verdachtsfreie Atemproben durchzuführen. (Das geltende Gesetz gestattet das Vornehmen einer Atemprobe nur bei Vorliegen eines Verdachts einer Alkoholisierung.) Da durch einen Atemtest - im Gegensatz zur Blutprobe - keine Verletzung der körperlichen Integrität vorliegt, liesse sich eine solche Massnahme rechtfertigen, zumal die Entdeckungswahrscheinlichkeit erhöht würde und sich damit die Dunkelziffer der Alkoholfahrten reduzieren liesse. Die Revision des Strassenverkehrsgesetzes sieht eine Einführung der verdachtsfreien Atemluftkontrolle vor. Dieser Revision ist bereits Widerstand erwachsen. 6. Aktive Preispolitik Alle erhältlichen Indikatoren deuten darauf hin, dass alkoholische Getränke in Zukunft billiger werden. Aus präventiver Sicht ist ein solcher Preiszerfall unerwünscht. Ein stabiles Verhältnis zwischen Einkommen und Alkoholpreisen durch steuerliche Massnahmen ist deshalb erforderlich. 7. Keine Erhöhung der Zugänglichkeit zu alkoholischen Getränken Neben Tabakwaren ist kein anderes Konsumgut so leicht erhältlich wie alkoholische Getränke. Dabei ist diese Erhältlichkeit durch die Liberalisierungsmassnahmen der Kantone in jüngster Zeit noch erhöht worden. Alle international erhältlichen Daten weisen darauf hin, dass Massnahmen, welche die Erhältlichkeit von alkoholischen Getränken einschränken, präventiv sinnvoll sind. Im besonderen hat sich gezeigt, dass eine hohe Dichte von Gaststätten mit alkoholbedingten Unfällen verknüpft ist. Die Abschaffung der Bedürfnisklausel wirkt sich deshalb längerfristig negativ auf das Unfallgeschehen aus. Ebenfalls ist nachgewiesen, dass Trinkaltersbegrenzungen eine sinnvolle präventive Massnahme darstellen. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen werden in der Schweiz jedoch nur wenig eingehalten. Es ist deshalb wichtig, ihnen künftig mehr Nachachtung zu verschaffen. 8. Förderung der Forschung sowie der Aus- und Weiterbildung Trotz der immensen sozialen Kosten, welcher der missbräuchliche Konsum von alkoholischen Getränken verursacht, fristet die Alkoholforschung in der Schweiz nur ein Schattendasein. Keine der grossen Universitäten des Landes widmet der Alkoholforschung eine besondere Aufmerksamkeit. Im Curriculum der medizinischen Ausbildung werden Alkoholprobleme völlig vernachlässigt, dies obwohl in medizinischen Abteilungen von Akutspitälern als auch in psychiatrischen Kliniken " Alkoholismus " eine der häufigsten Diagnose ist. Auch in der Weiterbildung der Ärzteschaft bestehen grosse Lücken hinsichtlich der Vermittlung von Wissen über eine adäquate Behandlung von Patienten mit Alkoholproblemen. 9. Solidarisches Tragen der Behandlungskosten Es besteht eine zunehmende Tendenz der Kranken- und Sozialversicherung, Heilungs- und Rehabilitationskosten im Falle von Suchtkrankheiten nicht mehr zu übernehmen. Dieser Desolidarisierung muss mit allen Mitteln begegnet werden - Abhängigkeit ist eine Krankheit, dies wird auch von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt. 10. Bessere Vernetzung und Koordination Eine verbesserte Koordination und eine Vernetzung vor allem präventiver Aktivitäten sowie von Weiterbildungsbemühungen ist ein altes Postulat. Gleichwohl überwiegt nach wie vor der " Kantönligeist ", interregionale und überkantonale Aktivitäten sind die Ausnahme, obwohl sich damit nicht nur Kosten sparen, sondern auch die Effizienz der Massnahmen erhöhen liessen. Dass hinsichtlich der Vernetzung vor allem dem Bund eine wichtige Rolle zukommt, versteht sich. Aus "abhängigkeiten" 1/97, Zeitschrift der SFA und von A+S Entwicklungen des Alkoholkonsums, der Alkoholkonsummuster und Probleme in der Schweiz Die schweizerische Alkoholpolitik 4 Jahre später neu betrachtet. Hier finden Sie das Kapitel Alkoholpolitik mit Links und Hinweisen zu anderen Seiten. Links zu Alkoholpolitik
http://www.edimuster.ch/:
Hier ist die Familie Muster in Ecublens VD - Eduard Muster: emuster@hotmail.com
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