Der
Vegetarianismus.


Ein Vortrag von

Dr. G. v. Bunge,
Professor der physiologischen Chemie in Basel.

Zweite Auflage.

Berlin 1901.
Verlag von August Hirschwald.
NW. Unter den Linden 68.


Vorwort zur zweiten Auflage.

Der vorliegende Vortrag wurde im Januar 1885 in der Aula der Universität Dorpat gehalten. Ich lasse ihn in der zweiten Auflage unverändert erscheinen, weil derselbe ein historisches Interesse hat. Es ist nämlich in diesem Vortrage meines Wissens zum ersten Male im deutschen Sprachgebiete die Forderung der totalen Abstinenz aufgestellt worden, der vollständigen Enthaltung von allen alkoholischen Getränken. Dass die totale Abstinenz das einzige wirksame Mittel im Kampfe gegen das wachsende Alkoholelend sei, ist seitdem in immer weiteren Kreisen zur Anerkennung gelangt. Deshalb könnte es vielleicht einige Kampfgenossen interessiren, auch hier die Anfänge der deutschen Antialkoholbewegung kennen zu lernen.
In Bezug auf die Gründe für und wider die ausschliesslich vegetabilische Nahrung haben neuere Forschungen nichts wesentlich Neues zu Tage gefördert, so dass ich auch in diesem Haupttheile des Vortrages keine wesentliche Aenderung vorzunehmen veranlasst war. Nur ein paar unwesentliche Zurechtstellungen und Zusätze habe ich angebracht.
Basel, im Juli 1900
G. v. Bunge.


Es folgen die von Bunge erwähnten Ausführungen über die totale Abstinenz aus dem Jahre 1885.

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Sie könnten nun, hochgeehrte Versammlung, durch meine bisherige skeptisch negirende Kritik sich nicht befriedigt fühlen. Sie könnten vielleicht wünschen, nun auch ein positives Urtheil zu hören. Wenn ich also ganz abgesehen von einer streng wissenschaftlichen Kritik sagen soll, was mir persönlich als das Wahrscheinlichste erscheint, wie ich persönlich die Bestrebungen der Vegetarianer beurtheile, so ist es Folgendes:
Es scheint mir, die Vegetarianer verdanken ihre Erfolge, die ihnen niemand bestreiten kann, hauptsächlich der vollständigen Vermeidung aller alkoholischen Getränke. Ihre Bestrebungen in dieser Richtung verdienen die vollste Anerkennung. Es sei mir gestattet diese meine Ansicht eingehend zu begründen.
Dass durch den Alkohol das grösste Elend in der menschlichen Gesellschaft hervorgebracht wird, muss jeder zugeben und, wer es noch bestreiten sollte, dem kann es durch Zahlen unwiderleglich bewiesen werden ¹).
Es waren beispielsweise in Berlin „unter den im Jahre 1871 erledigten Strafsachen siebzig Procent dem Branntwein (um es kurz zu sagen) zuzuschreiben“ ²). In England sind die Richter, Polizei

¹) Siehe Baer: „Der Alkoholismus“. Berlin 1818.
²) Vortrag des Strafanstalts-Director Krohne: „Ueber Branntwein und Verbrechen“ im Zweigverein „Berlin“ des „Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke“ 1884, mitgetheilt in den Zeitungen.

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und Gefängnissbeamten überzeugt, dass 75 80pCt. aller Verbrechen „durch Trunksucht geschehen ¹). In Paris wurde im Jahre 1868 festgestellt, dass 80 pCt. der verarmten Arbeiterfamilien durch die Trunksucht des Familienhauptes zu Grunde gerichtet waren ²). Die Aerzte an den Irrenanstalten Englands, Frankreichs, Deutschlands, Oesterreichs, Russlands, Schwedens und Nord-Amerika's sind zu der Ueberzeugung gelangt, dass 20 bis 40 pCt. der männlichen Wahnsinnigen ihr furchtbares Schicksal dem Alkohol zu danken haben ³). Es steht zweifellos fest, dass ein ganzes Heer von anderen Krankheiten durch den Alkohol entsteht und dass viele dieser Krankheiten, insbesondere die durch Alkohol acquirirten Nervenleiden von der leichtesten Nervosität bis zum ausgesprochenen Wahnsinn in hohem Grade erblich sind. Wurde doch beispielsweise constatirt, dass „unter 300 Blödsinnigen, deren Eltern nach Lebensweise, Gesund-

¹) Baer, l. c. S. 343.
²) Decaisne, Note présentée à l'Academie des sciences, 5. juin 1871, citirt bei Hitzig, „Ziele und Zwecke der Psychiatrie“ Zürich 1876.
³) Baer, 1. c. Abschnitt III. C. „Trunksucht und Geistesstörung“. S. 360, Ganghofner, „Ueber den Einfluss des Alkoholismus auf den Menschen“. 1879. S. 7. In der Leidesdorff'schen Klinik waren unter 161 männlichen Geisteskranken, an denen die Aerzte die Krankheitsursache glaubten constatiren zu können, 60, welche durch Alkoholmissbrauch geisteskrank geworden waren, also 37 pCt., unter den 70 weiblichen Pat. nur 3, also 4 pCt.

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heitszustand u.s.w. genau erforscht wurden, sich 145 befanden, deren Eltern Gewohnheitstrinker waren ¹). Es sei schliesslich noch hervorgehoben, dass auch ein bedeutender Procentsatz aller Selbstmorde dem Alkohol zugeschrieben wird - in Russland 38 pCt. ²).
Wohl weiss ich, dass man diese Zahlen bezweifeln kann. Sie lassen sich ja nicht genau feststellen. Der Verwechselung von Ursache und Wirkung ist ein weiter Spielraum gelassen. Die Zahlen könnten zu hoch sein. Sie könnten aber auch zu niedrig sein. Am Wesen der Sache ändert das nichts. Es muss jeder zugeben: der Alkohol ist die Quelle des grössten Elends. Es giebt auch jeder zu. Aber es heisst immer: „Ja der Missbrauch des Alkohols!“
Festgewurzelt ist im Volke noch immer das Vorurtheil, dass der Alkohol in sogenannten mässigen Dosen dem Menschen irgend etwas nützen könne, dass er „stärkend, nährend, erregend, belebend, erfrischend“ und wie die unklaren Ausdrücke alle lauten mögen auf den Menschen wirke.
Zur Widerlegung dieser Vorurtheile wird nichts mehr beitragen als die von der Militärverwaltung Englands, Nord-Amerikas und Deutschlands im Grossen angestellten Massenexperimente, welche bereits gezeigt haben, dass die Soldaten in Kriegs-

¹) Ganghofner, 1. c. S. 7.
²) Ganghofner, l. c. S. 10.

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und Friedenszeiten, in allen Klimaten, bei Hitze, Kälte und Regen alle Strapazen der angestrengtesten Märsche am besten ertragen, wenn man ihnen vollständig alle alkoholischen Getränke entzieht ¹). Dieselbe Erfahrung hat man auch bei den Nordpolexpeditionen gemacht; die Matrosen bekommen keinen Tropfen mehr ²).
Dass auch geistige Anstrengungen am besten ertragen werden, wenn man vollständig allen Alkohol meidet, giebt jeder zu, der den Versuch gemacht hat.
Die Wissenschaft weiss über die Wirkungen des Alkohols nichts weiter auszusagen, als dass er lähmend wirkt auf das Gehirn und Rückenmark, dass er die Temperatur des Körpers herabsetzt und dass er die Verdauung stört. Alle Bemühungen, eine erregende Wirkung des Alkohols auf irgend welche Organe nachzuweisen, sind gescheitert.
Dass bei der Behandlung acuter Krankheiten

¹) Baer, l. c. Abschnitt III.C. „Alkohol in der Armee“. Ueber die neuesten Experimente der deutschen Heerverwaltung in dieser Richtung und die günstigen Resultate der vollständigen Entziehung aller alkoholischen Getränke findet sich eine Mittheilung in der ,,Neuen preussischen Zeitung“, 1884, No. 296, den 17. December.
²) Baer, 1. c. S. 106. Finkelnburg, „Ueber die Aufgaben des Staates zur Bekämpfung der Trunksucht“. (Verhandlungen und Mittheilungen des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in Magdeburg. Heft 10. Verhandlungen im Jahre 1881. S. 3.)

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der Alkohol mit Erfolg Verwerthung finden könne, will ich nicht bestreiten; das ist eine Frage ganz für sich. Wenn der Arzt gegen chronische Leiden den fortgesetzten Gebrauch alkoholischer Getränke verordnet, so ist das schon bedenklich. Wenn aber vollends der Arzt einem gesunden Menschen anräth, tagtäglich zur „Stärkung“, zur "Erfrischung« alkoholische Getränke zu geniessen, so ladet er eine schwere Schuld auf sich. Ein Mensch wird nicht dadurch zum Trinker, dass er den Vorsatz fasst, sich ganz und gar dem Gotte Bacchus in die sanften Arme zu werfen, sondern gerade dadurch, dass er sich vornimmt ein mässiges Gläschen zur Stärkung zu trinken. „Das erste Glas der Mässigkeit“ so lautet der Wahlspruch des englischen grossen Vereins gegen den Alkohol „ist der Anfang der Trunksucht “ ¹). Es gehört tausendmal weniger Energie dazu, das erste Glas zu vermeiden, als nach dem ersten Glase abzubrechen. Es ist noch niemals ein Trinker geheilt worden durch den Vorsatz der Mässigkeit. In allen Füllen, wo dieses gelingt, gelingt es immer nur durch die Ueberzeugung, dass die einzige Rettung die Vermeidung des ersten Glases ist.
Das ist die einfache grosse Wahrheit, welche die englischen Teetotaler klar erkannt haben, das ist der Grund, weshalb sie solche Erfolge aufweisen,

¹) „The first glass of moderation is the beginning of drunkenness."

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während alle Mässigkeitsvereine herzlich wenig ausgerichtet haben. Die Zahl der Teetotaler beträgt. mehr als eine Million. Der Name Teetotaler soll herkommen von totally, vollständig, mit einer Verstärkung: teetotally, ganz und gar. Sie haben den Eid geschworen, keinen Tropfen zu trinken und keinen Tropfen einzuschenken. Sie verfolgen das Ziel, den Alkohol auf die Apotheke zurückzudrängen: sie fordern, der Staat solle den Verkauf aller alkoholischen Getränke verbieten, ihn nur noch gestatten in der Apotheke ¹) auf ein ärztliches Recept. Zur Erreichung dieses Zieles haben sie zunächst im Parlamente, wo sie zahlreich vertreten sind, den Antrag gestellt, es solle jeder Stadt und Landgemeinde das Recht ertheilt werden, in ihrem Districte das Princip der Teetotaler, Beschränkung des Alkohols auf die Apotheke, durchzuführen (Permissive Bill). Zur Unterstützung dieses Antrages ist eine Petition mit 11/2 Millionen Unterschriften dem Parlamente eingereicht und eine von 269 der bewährtesten Aerzte Englands unterschriebene Declaration erlassen worden. Die Million der Tee-

¹) Bekanntlich findet der Alkohol auch zur Darstellung vieler Producte der chemischen Technik Anwendung (Lacke, Essig, Aether, Theerfarben etc.).Diese Alkoholmenge ist indessen sehr gering im Vergleiche zu der als Genussmittel consumirten, und es ist praktisch sehr wohl durchführbar, für technische Zwecke Alkohol darzustellen und den betreffenden Fabriken den nöthigen Vorrath zukommen zu lassen, ohne dass derselbe als Genussmittel missbraucht werden kann.

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totaler vertheilt sich auf alle Berufsklassen und ihr unschätzbares Verdienst besteht darin, im Grossen den unumstösslichen Beweis geführt zu haben, dass der Mensch in jeder Berufsarbeit gesund und rüstig, lebensfroh und lebensmuthig sich erhält, ohne einen Tropfen Alkohol. Insbesondere im Heere und in der Marine, wo sie zahlreich vertreten sind, haben sie den Beweis geliefert, dass sie in Kriegs und Friedenszeiten alle Anstrengungen besser ertragen und Krankheiten weniger ausgesetzt sind als die übrigen Soldaten.
Das herrschende Vorurtheil, dass der Alkohol den Menschen stärke, findet seine Erklärung in der erwähnten lähmenden Wirkung, die er auf das Gehirn ausübt. Der Alkohol stärkt Niemand; er betäubt nur das Müdigkeitsgefühl. Das Müdigkeitsgefühl. aber ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine. Wer das Müdigkeitsgefühl mit Alkohol betäubt, um weiter zu arbeiten, gleicht dem, der gewaltsam das Sicherheitsventil verschliesst, um die Maschine überheizen zu können.
Der Irrthum, dass der Alkohol den Müden stärke, wird gerade für die zahlreichste Volksklasse ganz besonders verhängnissvoll: die armen Leute, deren Einkommen zu einem menschenwürdigen Dasein ohnehin nicht ausreicht, werden durch diesen Irrthum dazu verleitet, einen sehr bedeutenden Theil ihrer Einnahme zu verausgaben für alkoholische Getränke statt für wohlschmeckende Nahrung, welche allein sie stärken kann zu ihrer schweren Arbeit.

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Viele Personen sagen, sie trinken den Alkohol garnicht der Wirkung wegen, sie trinken den edlen Reben und Gerstensaft nur um des Wohlgeschmackes willen. Dass ein Glas edlen Weines wohlschmeckend sei wer wollte es leugnen! Aber die Freude wird zu theuer erkauft: durch den Genuss alkoholischer Getränke wird das Verlangen gerade nach derjenigen Nahrung abgeschwächt oder gänzlich aufgehoben, welche einem gesunden Menschen mit unverdorbenem Geschmacksinn die meiste Freude bereitet : zuckerreiche Früchte und überhaupt alle süssen Speisen. Ein Mann, der auf den Alkohol vollständig verzichtet, erlangt den Appetit eines Kindes wieder. Und der gesunde Instinct steht hier im besten Einklange mit den Resultaten der Physiologie, welche festgestellt hat, dass der Zucker die Quelle der Muskelkraft ist. In der Sprache aller Völker der Welt bedeutet das Wort süss zugleich angenehm. Wenn uns das Süsse nicht mehr angenehm ist, so deutet das auf einen abnormen Zustand. In diesem Zustande befindet sich der Trinker. Und als Trinker bezeichne ich jeden, der sich nicht behaglich fühlt, wenn er nicht Tag aus Tag ein in irgend einer Form. als Bier, als Wein Alkohol in seine Organe einführt. Der Appetit des Trinkers ist fast ausschliesslich auf Fleischspeisen gerichtet und die Vegetarianer haben vollkommen Recht, wenn sie lehren, dass Alkoholgenuss und übermässiger Fleischgenuss im Causalzusammenhange stehen. Man schaffe nur den Alkohol ab, so wird das unmässige

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Fleischessen von selbst aufhören. Die Frauen und Kinder, welche keinen Alkohol trinken, haben gar kein so grosses Verlangen nach Fleisch. Die Kaffeekränzchen der Frauen mit süssem Backwerk und die „Naschsucht“ der Kinder sind Aeusserungen eines gesunden Instinctes, welcher an der Tafel des biertrinkenden Familienhauptes keine Befriedigung findet.
Am ersten, scheint es mir, wäre der Alkohol zulässig als ausnahmsweises Genussmittel, bei besonderen Gelegenheiten, als „Sorgenbrecher“ zur Erhöhung geselliger Freuden. Diese unbestreitbare Eigenschaft des Alkohols beruht gleichfalls auf der erwähnten lähmenden Wirkung, die er auf das Gehirn ausübt. Diejenige Gehirnfunction nämlich, welche bei der beginnenden Lähmung zunächst geschwächt wird, ist das klare Urtheil, die Kritik. In Folge dessen praevalirt das Gemüthsleben, befreit von den Fesseln der Kritik. Deshalb wird der Mensch offenherzig und mittheilsam – der Satz „in vino veritas“ bleibt ewig wahr er wird sorglos und lebensmuthig er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren. Vor allem aber äussert sich die lähmende Wirkung des Alkohols darin, dass er das Schmerzgefühl betäubt und zwar zunächst die bittersten Schmerzen, die psychischen Schmerzen den Kummer, die Sorgen. Daher die heitere Stimmung, die sich der trinkenden Gesellschaft bemächtigt. Niemals aber wird ein Mensch durch geistige Getränke geistreich. Dieses Vorurtheil beruht auf einer Selbsttäuschung, es ist gleichfalls nur ein Symptom der

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erwähnten Lähmungserscheinung: in dem Masse als die Selbstkritik sinkt, steigt die Selbstgefälligkeit. Und vor allem darf die grosse Gefahr nie unterschätzt werden, welche auch diese am ersten zulässige Art des Alkoholgenusses mit sich bringt die Gefahr der Unmässigkeit. Die Trunksucht mit ihren Folgen, Krankheit, Wahnsinn, Verbrechen kann auch hier ihren Anfang nehmen und hat thatsächlich in millionen und abermillionen Fällen hier ihren Anfang genommen.
Wir hören es häufig aussprechen, für den Gebildeten sei die Gefahr nicht so gross, ein gebildeter Mensch werde nicht leicht durch den Alkohol zum Verbrecher. Aber das Verbrechen ist lange nicht das Schlimmste, was der Alkohol erzeugt: die Zahl der Verbrecher ist verschwindend gering im Vergleich zur Zahl derer, die durch den Alkohol zu moralischen Lumpen werden. Wieviel edler Gesinnung und idealen Strebens hat der ununterbrochene Bierstrom fortgespült!
Dass es sehr zahlreiche Menschen giebt, welche die Selbstbeherrschung besitzen, niemals unmässig zu sein, ist unbedingt zuzugeben. Dieser Vorzug aber entbindet Niemand von der Pflicht, durch die Macht des Beispiels auf diejenigen zu wirken, welche nur durch völlige Enthaltung zu retten sind. Auch als Sorgenbrecher ist der Alkohol zu verwerfen.
Der Alkohol hat noch eine Wirkung, um derentwillen er genossen wird; sie ist die schädlichste von allen. Zu den quälenden Gefühlen, die der Alkohol

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betäubt, gehört auch das Gefühl der langen Weile. Die lange Weile aber ist wie das Müdigkeitsgefühl, eine Vorrichtung zur Selbstregulirung in unserem Organismus. Wie uns das Müdigkeitsgefühl zur Ruhe zwingt, so zwingt uns die lange Weile zur Arbeit und Anstrengung, ohne welche unsere Muskeln und Nerven atrophiren und ein gesunder Zustand nicht möglich ist. Wird das Gefühl der langen Weile nicht durch Anstrengungen irgend welcher Art beseitigt, so schwillt es stetig an und gestaltet sich schliesslich zu einer wahrhaft dämonischen Macht. Es ist interessant zu beobachten, zu wie verzweifelten Mitteln hohle und träge Menschen ihre Zuflucht nehmen, um ohne eigene Anstrengung dem Dämon der langen Weile zu entfliehen. Rastlos treibt er sie durch ununterbrochene Geselligkeit von einem Ort zum anderen, von einer Zerstreuung zur anderen. Den meisten Menschen aber würde es mit diesen Mitteln nicht gelingen, dem Dämon zu entfliehen, sie würden sich schliesslich doch gezwungen sehen, in irgend einer Weise ihr Hirn und ihre Muskeln anzustrengen, um das Gefühl der Ruhe und Befriedigung wiederzugewinnen und die eigene Leere auszufüllen, wenn sie nicht den Alkohol hätten. Der Alkohol befreit sie sanft und leicht von dem Dämon. Dem Trinker und der trinkenden Gesellschaft kommt die eigene Oede und Leere niemals zum Bewusstsein; sie brauchen keine Interessen, keine Ideale sie haben ja die Wonne, das Behagen der Narkose. Nichts ist für die Entwicklung

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eines Menschen verhängnissvoller, nichts untergräbt und zerstört in dem Grade das Beste, was er hat, nichts ertödtet mit so unfehlbarer Sicherheit jeden Rest an Energie - als die fortgesetzte Betäubung der langen Weile durch den Alkohol.
Fassen wir Alles zusammen, so müssen wir bekennen: Die Teetotaler haben vollkommen Recht: der Staat sollte den Verkauf alkoholischer Getränke verbieten. Hat der Staat das Recht, Verbrechen zu strafen, sogar mit dem Tode zu strafen , so hat er auch das Recht, Verbrechen zu verhüten. Wohl weiss ich, dass der ganze liberale Doctrinarismus dagegen sich auflehnt. „Das wäre ja eine Bevormundung!“ ¹) Aber in Bezug

¹) In neuester Zeit hat das sogenannte „Gothenburger System zur Bekämpfung des Alkohols die grössten Erfolge aufzuweisen. Das Richtige an diesem System ist gerade die Bevormundung, der Zwang. Das Falsche liegt darin, dass das Princip der Mässigkeit, nicht das der völligen Enthaltsamkeit dem System zu Grunde gelegt ist. Das System legt nur den Armen einen Zwang auf, nicht den Reichen, welche das Gesetz gemacht haben. Die wahre Opferfreudigkeit ist bei demselben noch weniger zum Durchbruch gelangt als die richtige Erkenntniss. Nur das Princip der Teetotaler würde, durch das Gesetz unterstützt, das Uebel bei der Wurzel fassen. Indessen ist auch das Gothenburger System als bewährtes Mittel mit Freuden zu begrüssen. Alle praktische Klugheit besteht im Schliessen von Compromissen. „Die Principienreiterei ist die schlechteste Cavallerie.“ Mangel an praktischer Umsicht kann übrigens auch den Teetotalers nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie fordern ja nur eine sehr allmähliche Durchführung ihres Principes, zunächst in einzelnen Gemeinden, die dann durch ihr Beispiel weiterwirken. Ein plötzliches Verbot der Alkoholproduction und des Alkoholverkaufes im ganzen Staate wird kein Urtheilsfähiger befürworten. Die wirthschaftliche Umwälzung wäre eine zu gewaltige, der allgemeine Ruin auf allen Gebieten der Landwirthschaft und Industrie die unausbleibliche Folge.

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auf das Morphium giebt jeder das Recht der Bevormundung zu. In Bezug auf den Alkohol wird es bestritten. Und doch ist das Morphium lange nicht so gefährlich als der Alkohol!
Welche zerstörende Macht der Alkohol bildet im Leben der Culturvölker, werden Sie am besten erkennen, wenn ich statt aller Rhetorik noch einige Zahlen anführe:
„In den Vereinigten Staaten von Nord Amerika allein hat, wie Mr. Everett, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Washington berichtet, in den Jahren von 1860 1870 der Consum von Spirituosen eine directe Ausgabe von 3 Milliarden und eine indirecte von 600 Millionen Dollar der Nation auferlegt, 300000 Menschenleben vernichtet, 100000 Kinder in die Armenhäuser geschickt und wenigstens 150000 Leute in Gefängnisse und Arbeitshäuser, wenigstens 2000 Selbstmorde, den Verlust von wenigstens 10 Millionen Dollar durch Feuer und Gewalt verursacht und 20000 Wittwen und 1 Million Waisen gemacht.“ ¹) Für die meisten Staaten Europa's

¹) Baer, 1. c. S. 10.

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würde eine derartige Zusammenstellung noch weit ungünstigere Zahlen ergeben.
Doch genug der Worte. Durch Reden und Vorträge wird das Elend nicht aus der Welt geschafft auch durch Parlamentsdebatten nicht. Ich erwarte nichts von den Bestrebungen der Teetotaler im Parlamente. Durch die Macht des Wortes und der Gründe wird keine Majorität gewonnen. Die Majorität will das Gute nur, wenn sie etwas zu fürchten hat. Die Noth, der mörderische Kampf ums Dasein wird die Völker zwingen, die Quelle namenlosesten Elends zu schliessen. Ich habe diese Frage nur zur Sprache gebracht, weil ich der Meinung bin, dass die Vegetarianer ihre Erfolge hauptsächlich der vollständigen Vermeidung des Alkohols verdanken, und weil ich es für meine Pflicht halte, zu bekennen, dass wir in dieser Hinsicht den Vegetarianern die vollste Anerkennung, den wärmsten Dank und die grösste Hochachtung schuldig sind.
Dass die Vermeidung des Tabaks und der übrigen Narkotika mit zu den Erfolgen der Vegetarianer beiträgt, ist nicht zu bezweifeln. Der Schade aber, den diese Genussmittel anstiften, kommt garnicht in Betracht im Vergleich zur verheerenden Wirkung des Alkohols.
Zu beachten ist ferner, dass auch die Gefahr der Unmässigkeit im Essen bei vegetabilischer Nahrung geringer ist, als bei gemischter Kost.

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Schon die grössere Einförmigkeit der vegetabilischen Nahrung bringt es mit sich, dass die Versuchung zur Unmässigkeit geringer ist. Auch diesem Umstande sind vielleicht die Erfolge der Vegetarianer zum Theil zuzuschreiben.

In dieser Hinsicht scheint es mir charakteristisch, dass der Vegetarianismus in den romanischen Ländern keinen Boden findet. Die Romanen sind mässig auch ohne Vegetarianervereine. „Wir Deutschen", sagt Melanchthon „schmausen uns arm, schmausen uns krank, schmausen uns in die Hölle“.

Die Alkoholfrage, Vortrag von Gustav von Bunge aus dem Jahre 1886
Carl Spitteler zum Vortrag von G. von Bunge
Der andere Pionier der Antialkohol- und Abstinenzbewegung:
August Forel: Arzt, Naturforscher, Sozialreformer, 1848 - 1931
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Beiträge zur Alkohol-Geschichte der Schweiz (Einleitung, Index)
Volksabstimmungen zur Alkoholpolitik: Sechs alkoholpolitische Kraftakte
Geschichte des Beirates von SAS - SFA/ISPA 1913-1982
Direktoren von Zentralstelle und Fachstelle von 1901 bis 2003  
Schweizerischer Rat für Alkoholprobleme
1995: Wirt ist ein ganz spezieller Beruf

1987: Alkoholpolitik zwischen Wirtschaft und Gesundheit
1990: Gedenkrede zu Ehren von Prof. Dr. G. von Bunge
1886: "Die Alkoholfrage", Vortrag von Prof. Dr. Gustav von Bunge
Hier:

1885: Auszug zu "Abstinenz" aus dem Vortrag "Der Vegetarianismus" von G. v. Bunge

Weiter:
Die Alkoholartikel der Bundesverfassung von 1885
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung Ende 1999
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung 2000  
Prohibition – kein aktuelles Thema
Ausserdem:
Chroniken zur schweizerischen Alkoholpolitik
 
Hier finden Sie das Kapitel Alkoholpolitik mit Links und Hinweisen zu anderen Seiten.
http://www.edimuster.ch/: Hier ist die Familie Muster in Ecublens VD - Eduard Muster: emuster@hotmail.com 17/11/04