Der
Vegetarianismus.
Ein Vortrag von
Dr. G. v. Bunge,
Professor der physiologischen Chemie in Basel.
Zweite Auflage.
Berlin 1901.
Verlag von August Hirschwald.
NW. Unter den Linden 68.
Vorwort
zur zweiten Auflage.
Der vorliegende
Vortrag wurde im Januar 1885 in der Aula der Universität Dorpat gehalten.
Ich lasse ihn in der zweiten Auflage unverändert erscheinen, weil
derselbe ein historisches Interesse hat. Es ist nämlich in diesem
Vortrage meines Wissens zum ersten Male im deutschen Sprachgebiete die
Forderung der totalen Abstinenz aufgestellt worden, der vollständigen
Enthaltung von allen alkoholischen Getränken. Dass die totale Abstinenz
das einzige wirksame Mittel im Kampfe gegen das wachsende Alkoholelend
sei, ist seitdem in immer weiteren Kreisen zur Anerkennung gelangt. Deshalb
könnte es vielleicht einige Kampfgenossen interessiren, auch hier
die Anfänge der deutschen Antialkoholbewegung kennen zu lernen.
In Bezug auf die Gründe für und wider die ausschliesslich vegetabilische
Nahrung haben neuere Forschungen nichts wesentlich Neues zu Tage gefördert,
so dass ich auch in diesem Haupttheile des Vortrages keine wesentliche
Aenderung vorzunehmen veranlasst war. Nur ein paar unwesentliche Zurechtstellungen
und Zusätze habe ich angebracht.
Basel, im Juli 1900
G. v. Bunge.
Es folgen die
von Bunge erwähnten Ausführungen über die totale Abstinenz
aus dem Jahre 1885.
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Sie könnten nun, hochgeehrte
Versammlung, durch meine bisherige skeptisch negirende Kritik sich nicht
befriedigt fühlen. Sie könnten vielleicht wünschen, nun
auch ein positives Urtheil zu hören. Wenn ich also ganz abgesehen
von einer streng wissenschaftlichen Kritik sagen soll, was mir persönlich
als das Wahrscheinlichste erscheint, wie ich persönlich die Bestrebungen
der Vegetarianer beurtheile, so ist es Folgendes:
Es scheint mir, die Vegetarianer verdanken ihre Erfolge, die ihnen niemand
bestreiten kann, hauptsächlich der vollständigen Vermeidung
aller alkoholischen Getränke. Ihre Bestrebungen in dieser Richtung
verdienen die vollste Anerkennung. Es sei mir gestattet diese meine Ansicht
eingehend zu begründen.
Dass durch den Alkohol das grösste Elend in der menschlichen Gesellschaft
hervorgebracht wird, muss jeder zugeben und, wer es noch bestreiten sollte,
dem kann es durch Zahlen unwiderleglich bewiesen werden ¹).
Es waren beispielsweise in Berlin „unter den im Jahre 1871 erledigten
Strafsachen siebzig Procent dem Branntwein (um es kurz zu sagen) zuzuschreiben“
²). In England sind die Richter, Polizei
¹)
Siehe Baer: „Der Alkoholismus“. Berlin 1818.
²) Vortrag des Strafanstalts-Director
Krohne: „Ueber Branntwein und Verbrechen“ im Zweigverein „Berlin“
des „Deutschen Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke“
1884, mitgetheilt in den Zeitungen.
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und Gefängnissbeamten
überzeugt, dass 75 80pCt. aller Verbrechen „durch Trunksucht
geschehen“ ¹). In Paris
wurde im Jahre 1868 festgestellt, dass 80 pCt. der verarmten Arbeiterfamilien
durch die Trunksucht des Familienhauptes zu Grunde gerichtet waren ²).
Die Aerzte an den Irrenanstalten Englands, Frankreichs, Deutschlands,
Oesterreichs, Russlands, Schwedens und Nord-Amerika's sind zu der Ueberzeugung
gelangt, dass 20 bis 40 pCt. der männlichen Wahnsinnigen ihr furchtbares
Schicksal dem Alkohol zu danken haben ³). Es steht
zweifellos fest, dass ein ganzes Heer von anderen Krankheiten durch den
Alkohol entsteht und dass viele dieser Krankheiten, insbesondere die durch
Alkohol acquirirten Nervenleiden von der leichtesten Nervosität bis
zum ausgesprochenen Wahnsinn in hohem Grade erblich sind. Wurde doch beispielsweise
constatirt, dass „unter 300 Blödsinnigen, deren Eltern nach
Lebensweise, Gesund-
¹) Baer,
l. c. S. 343.
²) Decaisne, Note présentée
à l'Academie des sciences, 5. juin 1871, citirt bei Hitzig, „Ziele
und Zwecke der Psychiatrie“ Zürich 1876.
³) Baer, 1. c. Abschnitt III. C.
„Trunksucht und Geistesstörung“. S. 360, Ganghofner,
„Ueber den Einfluss des Alkoholismus auf den Menschen“. 1879.
S. 7. In der Leidesdorff'schen Klinik waren unter 161 männlichen
Geisteskranken, an denen die Aerzte die Krankheitsursache glaubten constatiren
zu können, 60, welche durch Alkoholmissbrauch geisteskrank geworden
waren, also 37 pCt., unter den 70 weiblichen Pat. nur 3, also 4 pCt.
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heitszustand u.s.w. genau erforscht
wurden, sich 145 befanden, deren Eltern Gewohnheitstrinker waren ¹).
Es sei schliesslich noch hervorgehoben, dass auch ein bedeutender Procentsatz
aller Selbstmorde dem Alkohol zugeschrieben wird - in Russland 38 pCt.
²).
Wohl weiss ich, dass man diese Zahlen bezweifeln kann. Sie lassen sich
ja nicht genau feststellen. Der Verwechselung von Ursache und Wirkung
ist ein weiter Spielraum gelassen. Die Zahlen könnten zu hoch sein.
Sie könnten aber auch zu niedrig sein. Am Wesen der Sache ändert
das nichts. Es muss jeder zugeben: der Alkohol ist die Quelle des grössten
Elends. Es giebt auch jeder zu. Aber es heisst immer: „Ja der Missbrauch
des Alkohols!“
Festgewurzelt ist im Volke noch immer das Vorurtheil, dass der Alkohol
in sogenannten mässigen Dosen dem Menschen irgend etwas nützen
könne, dass er „stärkend, nährend, erregend, belebend,
erfrischend“ und wie die unklaren Ausdrücke alle lauten mögen
auf den Menschen wirke.
Zur Widerlegung dieser Vorurtheile wird nichts mehr beitragen als die
von der Militärverwaltung Englands, Nord-Amerikas und Deutschlands
im Grossen angestellten Massenexperimente, welche bereits gezeigt haben,
dass die Soldaten in Kriegs-
¹)
Ganghofner, 1. c. S. 7.
²) Ganghofner, l. c. S. 10.
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und Friedenszeiten, in allen
Klimaten, bei Hitze, Kälte und Regen alle Strapazen der angestrengtesten
Märsche am besten ertragen, wenn man ihnen vollständig alle
alkoholischen Getränke entzieht ¹). Dieselbe
Erfahrung hat man auch bei den Nordpolexpeditionen gemacht; die Matrosen
bekommen keinen Tropfen mehr ²).
Dass auch geistige Anstrengungen am besten ertragen werden, wenn man vollständig
allen Alkohol meidet, giebt jeder zu, der den Versuch gemacht hat.
Die Wissenschaft weiss über die Wirkungen des Alkohols nichts weiter
auszusagen, als dass er lähmend wirkt auf das Gehirn und Rückenmark,
dass er die Temperatur des Körpers herabsetzt und dass er die Verdauung
stört. Alle Bemühungen, eine erregende Wirkung des Alkohols
auf irgend welche Organe nachzuweisen, sind gescheitert.
Dass bei der Behandlung acuter Krankheiten
¹)
Baer, l. c. Abschnitt III.C. „Alkohol in der Armee“. Ueber
die neuesten Experimente der deutschen Heerverwaltung in dieser Richtung
und die günstigen Resultate der vollständigen Entziehung aller
alkoholischen Getränke findet sich eine Mittheilung in der ,,Neuen
preussischen Zeitung“, 1884, No. 296, den 17. December.
²) Baer, 1. c. S. 106. Finkelnburg,
„Ueber die Aufgaben des Staates zur Bekämpfung der Trunksucht“.
(Verhandlungen und Mittheilungen des Vereins für öffentliche
Gesundheitspflege in Magdeburg. Heft 10. Verhandlungen im Jahre 1881.
S. 3.)
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der Alkohol mit Erfolg Verwerthung
finden könne, will ich nicht bestreiten; das ist eine Frage ganz
für sich. Wenn der Arzt gegen chronische Leiden den fortgesetzten
Gebrauch alkoholischer Getränke verordnet, so ist das schon bedenklich.
Wenn aber vollends der Arzt einem gesunden Menschen anräth, tagtäglich
zur „Stärkung“, zur "Erfrischung« alkoholische
Getränke zu geniessen, so ladet er eine schwere Schuld auf sich.
Ein Mensch wird nicht dadurch zum Trinker, dass er den Vorsatz fasst,
sich ganz und gar dem Gotte Bacchus in die sanften Arme zu werfen, sondern
gerade dadurch, dass er sich vornimmt ein mässiges Gläschen
zur Stärkung zu trinken. „Das erste Glas der Mässigkeit“
so lautet der Wahlspruch des englischen grossen Vereins gegen den Alkohol
„ist der Anfang der Trunksucht “ ¹).
Es gehört tausendmal weniger Energie dazu, das erste Glas zu vermeiden,
als nach dem ersten Glase abzubrechen. Es ist noch niemals ein Trinker
geheilt worden durch den Vorsatz der Mässigkeit. In allen Füllen,
wo dieses gelingt, gelingt es immer nur durch die Ueberzeugung, dass die
einzige Rettung die Vermeidung des ersten Glases ist.
Das ist die einfache grosse Wahrheit, welche die englischen Teetotaler
klar erkannt haben, das ist der Grund, weshalb sie solche Erfolge aufweisen,
¹)
„The first glass of moderation is the beginning of drunkenness."
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während alle Mässigkeitsvereine
herzlich wenig ausgerichtet haben. Die Zahl der Teetotaler beträgt.
mehr als eine Million. Der Name Teetotaler soll herkommen von totally,
vollständig, mit einer Verstärkung: teetotally, ganz und gar.
Sie haben den Eid geschworen, keinen Tropfen zu trinken und keinen Tropfen
einzuschenken. Sie verfolgen das Ziel, den Alkohol auf die Apotheke zurückzudrängen:
sie fordern, der Staat solle den Verkauf aller alkoholischen Getränke
verbieten, ihn nur noch gestatten in der Apotheke ¹)
auf ein ärztliches Recept. Zur Erreichung dieses Zieles haben sie
zunächst im Parlamente, wo sie zahlreich vertreten sind, den Antrag
gestellt, es solle jeder Stadt und Landgemeinde das Recht ertheilt werden,
in ihrem Districte das Princip der Teetotaler, Beschränkung des Alkohols
auf die Apotheke, durchzuführen (Permissive Bill). Zur Unterstützung
dieses Antrages ist eine Petition mit 11/2 Millionen Unterschriften dem
Parlamente eingereicht und eine von 269 der bewährtesten Aerzte Englands
unterschriebene Declaration erlassen worden. Die Million der Tee-
¹)
Bekanntlich findet der Alkohol auch zur Darstellung vieler Producte der
chemischen Technik Anwendung (Lacke, Essig, Aether, Theerfarben etc.).Diese
Alkoholmenge ist indessen sehr gering im Vergleiche zu der als Genussmittel
consumirten, und es ist praktisch sehr wohl durchführbar, für
technische Zwecke Alkohol darzustellen und den betreffenden Fabriken den
nöthigen Vorrath zukommen zu lassen, ohne dass derselbe als Genussmittel
missbraucht werden kann.
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totaler vertheilt sich auf
alle Berufsklassen und ihr unschätzbares Verdienst besteht darin,
im Grossen den unumstösslichen Beweis geführt zu haben, dass
der Mensch in jeder Berufsarbeit gesund und rüstig, lebensfroh und
lebensmuthig sich erhält, ohne einen Tropfen Alkohol. Insbesondere
im Heere und in der Marine, wo sie zahlreich vertreten sind, haben sie
den Beweis geliefert, dass sie in Kriegs und Friedenszeiten alle Anstrengungen
besser ertragen und Krankheiten weniger ausgesetzt sind als die übrigen
Soldaten.
Das herrschende Vorurtheil, dass der Alkohol den Menschen stärke,
findet seine Erklärung in der erwähnten lähmenden Wirkung,
die er auf das Gehirn ausübt. Der Alkohol stärkt Niemand; er
betäubt nur das Müdigkeitsgefühl. Das Müdigkeitsgefühl.
aber ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine. Wer das Müdigkeitsgefühl
mit Alkohol betäubt, um weiter zu arbeiten, gleicht dem, der gewaltsam
das Sicherheitsventil verschliesst, um die Maschine überheizen zu
können.
Der Irrthum, dass der Alkohol den Müden stärke, wird gerade
für die zahlreichste Volksklasse ganz besonders verhängnissvoll:
die armen Leute, deren Einkommen zu einem menschenwürdigen Dasein
ohnehin nicht ausreicht, werden durch diesen Irrthum dazu verleitet, einen
sehr bedeutenden Theil ihrer Einnahme zu verausgaben für alkoholische
Getränke statt für wohlschmeckende Nahrung, welche allein sie
stärken kann zu ihrer schweren Arbeit.
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Viele Personen sagen, sie trinken
den Alkohol garnicht der Wirkung wegen, sie trinken den edlen Reben und
Gerstensaft nur um des Wohlgeschmackes willen. Dass ein Glas edlen Weines
wohlschmeckend sei wer wollte es leugnen! Aber die Freude wird zu theuer
erkauft: durch den Genuss alkoholischer Getränke wird das Verlangen
gerade nach derjenigen Nahrung abgeschwächt oder gänzlich aufgehoben,
welche einem gesunden Menschen mit unverdorbenem Geschmacksinn die meiste
Freude bereitet : zuckerreiche Früchte und überhaupt alle süssen
Speisen. Ein Mann, der auf den Alkohol vollständig verzichtet, erlangt
den Appetit eines Kindes wieder. Und der gesunde Instinct steht hier im
besten Einklange mit den Resultaten der Physiologie, welche festgestellt
hat, dass der Zucker die Quelle der Muskelkraft ist. In der Sprache aller
Völker der Welt bedeutet das Wort süss zugleich angenehm. Wenn
uns das Süsse nicht mehr angenehm ist, so deutet das auf einen abnormen
Zustand. In diesem Zustande befindet sich der Trinker. Und als Trinker
bezeichne ich jeden, der sich nicht behaglich fühlt, wenn er nicht
Tag aus Tag ein in irgend einer Form. als Bier, als Wein Alkohol in seine
Organe einführt. Der Appetit des Trinkers ist fast ausschliesslich
auf Fleischspeisen gerichtet und die Vegetarianer haben vollkommen Recht,
wenn sie lehren, dass Alkoholgenuss und übermässiger Fleischgenuss
im Causalzusammenhange stehen. Man schaffe nur den Alkohol ab, so wird
das unmässige
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Fleischessen von selbst aufhören.
Die Frauen und Kinder, welche keinen Alkohol trinken, haben gar kein so
grosses Verlangen nach Fleisch. Die Kaffeekränzchen der Frauen mit
süssem Backwerk und die „Naschsucht“ der Kinder sind
Aeusserungen eines gesunden Instinctes, welcher an der Tafel des biertrinkenden
Familienhauptes keine Befriedigung findet.
Am ersten, scheint es mir, wäre der Alkohol zulässig als ausnahmsweises
Genussmittel, bei besonderen Gelegenheiten, als „Sorgenbrecher“
zur Erhöhung geselliger Freuden. Diese unbestreitbare Eigenschaft
des Alkohols beruht gleichfalls auf der erwähnten lähmenden
Wirkung, die er auf das Gehirn ausübt. Diejenige Gehirnfunction nämlich,
welche bei der beginnenden Lähmung zunächst geschwächt
wird, ist das klare Urtheil, die Kritik. In Folge dessen praevalirt das
Gemüthsleben, befreit von den Fesseln der Kritik. Deshalb wird der
Mensch offenherzig und mittheilsam – der Satz „in vino veritas“
bleibt ewig wahr er wird sorglos und lebensmuthig er sieht eben nicht
mehr klar die Gefahren. Vor allem aber äussert sich die lähmende
Wirkung des Alkohols darin, dass er das Schmerzgefühl betäubt
und zwar zunächst die bittersten Schmerzen, die psychischen Schmerzen
den Kummer, die Sorgen. Daher die heitere Stimmung, die sich der trinkenden
Gesellschaft bemächtigt. Niemals aber wird ein Mensch durch geistige
Getränke geistreich. Dieses Vorurtheil beruht auf einer Selbsttäuschung,
es ist gleichfalls nur ein Symptom der
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erwähnten Lähmungserscheinung:
in dem Masse als die Selbstkritik sinkt, steigt die Selbstgefälligkeit.
Und vor allem darf die grosse Gefahr nie unterschätzt werden, welche
auch diese am ersten zulässige Art des Alkoholgenusses mit sich bringt
die Gefahr der Unmässigkeit. Die Trunksucht mit ihren Folgen, Krankheit,
Wahnsinn, Verbrechen kann auch hier ihren Anfang nehmen und hat thatsächlich
in millionen und abermillionen Fällen hier ihren Anfang genommen.
Wir hören es häufig aussprechen, für den Gebildeten sei
die Gefahr nicht so gross, ein gebildeter Mensch werde nicht leicht durch
den Alkohol zum Verbrecher. Aber das Verbrechen ist lange nicht das Schlimmste,
was der Alkohol erzeugt: die Zahl der Verbrecher ist verschwindend gering
im Vergleich zur Zahl derer, die durch den Alkohol zu moralischen Lumpen
werden. Wieviel edler Gesinnung und idealen Strebens hat der ununterbrochene
Bierstrom fortgespült!
Dass es sehr zahlreiche Menschen giebt, welche die Selbstbeherrschung
besitzen, niemals unmässig zu sein, ist unbedingt zuzugeben. Dieser
Vorzug aber entbindet Niemand von der Pflicht, durch die Macht des Beispiels
auf diejenigen zu wirken, welche nur durch völlige Enthaltung zu
retten sind. Auch als Sorgenbrecher ist der Alkohol zu verwerfen.
Der Alkohol hat noch eine Wirkung, um derentwillen er genossen wird; sie
ist die schädlichste von allen. Zu den quälenden Gefühlen,
die der Alkohol
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betäubt, gehört auch
das Gefühl der langen Weile. Die lange Weile aber ist wie das Müdigkeitsgefühl,
eine Vorrichtung zur Selbstregulirung in unserem Organismus. Wie uns das
Müdigkeitsgefühl zur Ruhe zwingt, so zwingt uns die lange Weile
zur Arbeit und Anstrengung, ohne welche unsere Muskeln und Nerven atrophiren
und ein gesunder Zustand nicht möglich ist. Wird das Gefühl
der langen Weile nicht durch Anstrengungen irgend welcher Art beseitigt,
so schwillt es stetig an und gestaltet sich schliesslich zu einer wahrhaft
dämonischen Macht. Es ist interessant zu beobachten, zu wie verzweifelten
Mitteln hohle und träge Menschen ihre Zuflucht nehmen, um ohne eigene
Anstrengung dem Dämon der langen Weile zu entfliehen. Rastlos treibt
er sie durch ununterbrochene Geselligkeit von einem Ort zum anderen, von
einer Zerstreuung zur anderen. Den meisten Menschen aber würde es
mit diesen Mitteln nicht gelingen, dem Dämon zu entfliehen, sie würden
sich schliesslich doch gezwungen sehen, in irgend einer Weise ihr Hirn
und ihre Muskeln anzustrengen, um das Gefühl der Ruhe und Befriedigung
wiederzugewinnen und die eigene Leere auszufüllen, wenn sie nicht
den Alkohol hätten. Der Alkohol befreit sie sanft und leicht von
dem Dämon. Dem Trinker und der trinkenden Gesellschaft kommt die
eigene Oede und Leere niemals zum Bewusstsein; sie brauchen keine Interessen,
keine Ideale sie haben ja die Wonne, das Behagen der Narkose. Nichts ist
für die Entwicklung
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eines Menschen verhängnissvoller,
nichts untergräbt und zerstört in dem Grade das Beste, was er
hat, nichts ertödtet mit so unfehlbarer Sicherheit jeden Rest an
Energie - als die fortgesetzte Betäubung der langen Weile durch den
Alkohol.
Fassen wir Alles zusammen, so müssen wir bekennen: Die Teetotaler
haben vollkommen Recht: der Staat sollte den Verkauf alkoholischer Getränke
verbieten. Hat der Staat das Recht, Verbrechen zu strafen, sogar mit dem
Tode zu strafen , so hat er auch das Recht, Verbrechen zu verhüten.
Wohl weiss ich, dass der ganze liberale Doctrinarismus dagegen sich auflehnt.
„Das wäre ja eine Bevormundung!“ ¹)
Aber in Bezug
¹)
In neuester Zeit hat das sogenannte „Gothenburger System“
zur Bekämpfung des Alkohols die grössten Erfolge aufzuweisen.
Das Richtige an diesem System ist gerade die Bevormundung, der Zwang.
Das Falsche liegt darin, dass das Princip der Mässigkeit, nicht das
der völligen Enthaltsamkeit dem System zu Grunde gelegt ist. Das
System legt nur den Armen einen Zwang auf, nicht den Reichen, welche das
Gesetz gemacht haben. Die wahre Opferfreudigkeit ist bei demselben noch
weniger zum Durchbruch gelangt als die richtige Erkenntniss. Nur das Princip
der Teetotaler würde, durch das Gesetz unterstützt, das Uebel
bei der Wurzel fassen. Indessen ist auch das Gothenburger System als bewährtes
Mittel mit Freuden zu begrüssen. Alle praktische Klugheit besteht
im Schliessen von Compromissen. „Die Principienreiterei ist die
schlechteste Cavallerie.“ Mangel an praktischer Umsicht kann übrigens
auch den Teetotalers nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie fordern ja
nur eine sehr allmähliche Durchführung ihres Principes, zunächst
in einzelnen Gemeinden, die dann durch ihr Beispiel weiterwirken. Ein
plötzliches Verbot der Alkoholproduction und des Alkoholverkaufes
im ganzen Staate wird kein Urtheilsfähiger befürworten. Die
wirthschaftliche Umwälzung wäre eine zu gewaltige, der allgemeine
Ruin auf allen Gebieten der Landwirthschaft und Industrie die unausbleibliche
Folge.
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auf das Morphium giebt jeder
das Recht der Bevormundung zu. In Bezug auf den Alkohol wird es bestritten.
Und doch ist das Morphium lange nicht so gefährlich als der Alkohol!
Welche zerstörende Macht der Alkohol bildet im Leben der Culturvölker,
werden Sie am besten erkennen, wenn ich statt aller Rhetorik noch einige
Zahlen anführe:
„In den Vereinigten Staaten von Nord Amerika allein hat, wie Mr.
Everett, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten in Washington
berichtet, in den Jahren von 1860 1870 der Consum von Spirituosen eine
directe Ausgabe von 3 Milliarden und eine indirecte von 600 Millionen
Dollar der Nation auferlegt, 300000 Menschenleben vernichtet, 100000 Kinder
in die Armenhäuser geschickt und wenigstens 150000 Leute in Gefängnisse
und Arbeitshäuser, wenigstens 2000 Selbstmorde, den Verlust von wenigstens
10 Millionen Dollar durch Feuer und Gewalt verursacht und 20000 Wittwen
und 1 Million Waisen gemacht.“ ¹) Für
die meisten Staaten Europa's
¹)
Baer,
1. c. S. 10.
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würde eine derartige Zusammenstellung
noch weit ungünstigere Zahlen ergeben.
Doch genug der Worte. Durch Reden und Vorträge wird das Elend nicht
aus der Welt geschafft auch durch Parlamentsdebatten nicht. Ich erwarte
nichts von den Bestrebungen der Teetotaler im Parlamente. Durch die Macht
des Wortes und der Gründe wird keine Majorität gewonnen. Die
Majorität will das Gute nur, wenn sie etwas zu fürchten hat.
Die Noth, der mörderische Kampf ums Dasein wird die Völker zwingen,
die Quelle namenlosesten Elends zu schliessen. Ich habe diese Frage nur
zur Sprache gebracht, weil ich der Meinung bin, dass die Vegetarianer
ihre Erfolge hauptsächlich der vollständigen Vermeidung des
Alkohols verdanken, und weil ich es für meine Pflicht halte, zu bekennen,
dass wir in dieser Hinsicht den Vegetarianern die vollste Anerkennung,
den wärmsten Dank und die grösste Hochachtung schuldig sind.
Dass die Vermeidung des Tabaks und der übrigen Narkotika mit zu den
Erfolgen der Vegetarianer beiträgt, ist nicht zu bezweifeln. Der
Schade aber, den diese Genussmittel anstiften, kommt garnicht in Betracht
im Vergleich zur verheerenden Wirkung des Alkohols.
Zu beachten ist ferner, dass auch die Gefahr der Unmässigkeit im
Essen bei vegetabilischer Nahrung geringer ist, als bei gemischter Kost.
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Schon die grössere Einförmigkeit
der vegetabilischen Nahrung bringt es mit sich, dass die Versuchung zur
Unmässigkeit geringer ist. Auch diesem Umstande sind vielleicht die
Erfolge der Vegetarianer zum Theil zuzuschreiben.
In dieser Hinsicht scheint
es mir charakteristisch, dass der Vegetarianismus in den romanischen Ländern
keinen Boden findet. Die Romanen sind mässig auch ohne Vegetarianervereine.
„Wir Deutschen", sagt Melanchthon „schmausen uns arm,
schmausen uns krank, schmausen uns in die Hölle“.
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