Kann man den Alkoholismus, ohne gleichzeitige Änderung des Gesamtverbrauches einer Bevölkerung, reduzieren?


SULLY LEDERMANN, Chef de section à l'Institut national d'Etudes démographiques, Paris, Frankreich - Referat am Internationalen Kongress gegen Alkoholismus in Frankfurt, 1964.
Mit dieser Mitteilung möchten wir Ihre Aufmerksamkeit auf das Ergebnis einer Untersuchung lenken, das den Kampf gegen den Alkoholismus unmittelbar und nachteilig berührt.

Das Gesetz der Konsumverteilung

Eine Bevölkerung setzt sich aus einer Vielfalt von Individuen zusammen, deren psycho-physiologische Einstellung dem Alkoholgenuss gegenüber sehr verschieden ist. Aus dem Zusammenwirken dieser Millionen von Einstellungen entsteht eine gewisse statistische Verteilung der individuellen Konsume. die zwischen Null und dem sehr beträchtlichen Verbrauch der großen Alkoholiker variiert.
Jedes mögliche Verbrauchsniveau kann mit einer gewissen Häufigkeit beobachtet werden. Die Grundbeachtung ist jedoch, dass diese diversen Häufigkeiten nicht irgendwie auftreten. Ihre Verteilung kann man grob gesehen einem statistischen Gesetz, unter dem Namen normal-logarithmisches Gesetz* bekannt, zuordnen.
( *
Wenn die untersuchte Bevölkerung einen relativ hohen Anteil von Nichtverbrauchern aufweist, muss dieser Anteil abgezogen werden, da man in diesem Fall zwei verschiedene Untergruppen, die der Abstinenten und die der Verbraucher hat, die beide zusammengenommen im statistischen Sinn heterogen sind.)
Es ist anzunehmen, dass man dieses Phänomen mit Hilfe eines Wahrscheinlichkeitsmodelles in der Art derer, mit denen man Ansteckungserscheinungen und Epidemien beschreibt, besser umfassen könnte, jedoch Ist das Ergebnis dieser ersten Annäherung schon sehr aufschlussreich. Abbildung 1 stellt die Häufigkeitskurve der erwachsenen französischen Bevölkerung dar.


Abbildung 1 Verteilung der Häufigkeit des Verbrauches – Normal-logarithmisches Gesetz

Dieselbe Abbildung zeigt, wie die Kurve durch eine Änderung des Durchschnittsverbrauches verändert wird. Verglichen werden: die Kurve der Erwachsenen in Frankreich (Durchschnittsverbrauch etwa 30 Liter reinen Alkohols pro Jahr, jetzt etwas weniger); eine Kurve mit einem Durchschnittsverbrauch von ungefähr 15 Liter reinen Alkohol pro Jahr (den Verhältnissen in den Vereinigten Staaten, mit 60% erwachsenen Verbrauchern, entsprechend); eine Kurve mit einem Durchschnittsverbrauch von 3 Litern reinem Alkohol pro Jahr (Typ der erwachsenen Bevölkerung in den Niederlanden).

Eigenschaften der Frequenzverteilung

Die drei Kurven sind ausgesprochen unsymmetrisch. Mit anderen Worten teilt der Durchschnittsverbrauch die Bevölkerungen nicht in zwei gleichstarke Gruppen, von denen die eine mehr, die andere weniger als den Durchschnitt verbraucht. In Frankreich liegen ungefähr zwei Drittel unter und ein Drittel über dem Durchschnitt.
Der Durchschnittsverbrauch, d. h. der Kulminationspunkt der Kurve, ist weit davon entfernt, der häufigste zu sein. In Frankreich, mit einem Durchschnittsverbrauch von 30 Litern reinem Alkohol pro Jahr, liegt der häufigste Verbrauch bei 10 Liter reinem Alkohol pro Jahr, d.h. ungefähr 2,7 cl reinem Alkohol pro Tag, was ½ Liter Wein entspricht.
Der häufigste Verbrauch der 75 Millionen amerikanischen Konsumenten (Abstinente ausgeschlossen) liegt bei 2,5 Liter, während ihr Durchschnittsverbrauch mit 15 Liter festgestellt wurde. Die holländischen Verbraucher dürften einen Häufigkeitskonsum von ungefähr 1 Liter oder etwas weniger bei einem Durchschnittsverbrauch von 3 Liter haben.
In jeder Situation findet man Konsumenten mit sehr hohem Verbrauch, deren Prozentsatz in der Gesamtbevölkerung jedoch um so geringer ist, als der Durchschnittsverbrauch der Bevölkerung klein ist. Zwischen starken Verbrauchern und Durchschnittsverbrauch einer Bevölkerung besteht ein ziemlich präzises statistisches Verhältnis. Grob gesehen hat man zum Beispiel:
P20+ = 3/4 m²/100
wobei P20+ = Prozentsatz der Verbraucher, die gewöhnlich mehr als 20 cl reinen Alkohol pro Tag genießen.
m = Durchschnittsverbrauch der Bevölkerung in Litern reinen Alkohols ausgedrückt (pro Jahr)

Die Abbildungen 2 und 3 geben den Verlauf der Proportionen P10+ und P20+ in Funktion des Durchschnittsverbrauches m wieder. In Frankreich mit m = 30 Liter, hat man P10+ = ungefähr 1/4 und P20+ = 7 %. Für die 75 Millionen erwachsenen Amerikaner mit m = 15 Liter sind P10+ = 8% und P20+ = 2%.


Abbildung 2: Änderung des Anteils der Verbraucher von 10 cl reinem Alkohol pro Tag im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch: Neue Angaben.


Abbildung 3: Änderung des Anteils der Verbraucher von 20 cl reinem Alkohol pro Tag im Vergleich zum Durchschnittsverbrauch: Neue Angaben.

Die Richtigkeit dieser Verhältniszahlen, die 1956 zum ersten Mal veröffentlicht wurden, konnte seitdem durch mehrere, in Frankreich durchgeführte Erhebungen bestätigt werden. Besonders bemerkenswert ist eine Erhebung über den Verbrauch von Zirrhosekranken in Frankreich, deren Durchschnittskonsum bei 90 Liter reinen Alkohols pro Jahr liegt.

Gesamtverbrauch der übermässigen Konsumenten

Die Kenntnis der Verteilung der Verbraucher gestattet den Gesamtverbrauch der übermäßigen Verbraucher C, im Verhältnis zum Gesamtverbrauch der Bevölkerung, zu berechnen.. Drei Berechnungsstufen wurden berücksichtigt: "10 cl und mehr", "20 cl und mehr" und "30 cl und mehr" (Abb. 4).


Abbildung 4: Gesamtverbrauch der übermäßigen Konsumenten in % zum Gesamtverbrauch der Bevölkerung: Verbraucher von 10 cl + reinen Alkohols pro Tag (C10+); von 20 cl und mehr (C20+); 30 cl und mehr (C30+).

In Frankreich mit m = 30 Liter, C20+ = 1/4 des Gesamtverbrauches. Nimmt man die Stufe 10 cl und mehr, erhält man C10+ = 57%, d. h. etwas mehr als die Hälfte des Gesamtverbrauches, was gleichzeitig 57% des Gewinns der Hersteller und des Spirituosenhandels darstellen. In den Vereinigten Staaten mit m = 15 Liter garantieren die Verbraucher von "20 cl +" reinem Alkohol pro Tag den Absatz von C20+ = 20% des Gesamtverbrauches und diejenigen mit "10 cl +" C10+ = 40% des Gesamtverbrauches.

Es erübrigt sich, die Bedeutung dieses statistischen Verhältnisses, ebenso wie die Höhe der Einkünfte, die durch das, was man in seinem vollsten wirtschaftlichen Sinn eine "Alkoholanlage " nennen kann, besonders zu unterstreichen.

Wir wollen jedoch kurz die schwierige Frage streifen, wie man dem Produzenten und dem Handel dieses Phänomen zu Bewusstsein bringen kann: keiner fühlt sich persönlich verantwortlich. Es handelt sich um eine kollektive und anonyme Erscheinung. Und gerade dort liegt die Schwierigkeit, die Lage zu erkennen und jedem Einzelgewissen zu Bewusstsein zu bringen, vor allem, wenn nachteilige Auswirkungen zu befürchten stehen. Eine dorthin gehende Entwicklung kann also nur sehr schwer in Gang gebracht werden.

Das Verhältnis "vernünftiger - unvernünftiger Verbraucher"

Bis zum Beweis des Gegenteils der bisher noch nicht erbracht wurde zeigt die Untersuchung der Verbrauchsverteilung, dass es im Dabeisein von Alkohol alle Verbrauchsniveaus in einer Bevölkerung gibt, angefangen bei den geringsten bis hinauf zu den höchsten. Diesen Konsum kann man in zwei Gruppen aufgliedern: "mässigen" und "übermässigen" Konsum. Das Verhältnis der beiden ändert sich mit der gewählten Berechnungsstufe. Ist diese aber einmal festgelegt worden, so hängt das Verhältnis nur noch vom Durchschnittsverbrauch pro Kopf der Bevölkerung ab.

Daraus folgt, dass, will man in Frankreich zum Beispiel die Anzahl der Verbraucher "20 cl und mehr" reinem Alkohol pro Tag und die sozialen Schäden und Lasten, die aus diesem Zustand entstehen, - angenommen sie verhalten sich proportional - auf die Hälfte herabsetzen, so müsste der Durchschnittsverbrauch pro Kopf, das heisst der Gesamtverbrauch und schließlich die Produktion, um ungefähr ein Drittel gesenkt werden. Eine derartige Entwicklung würde also erhebliche Opfer fordern.

Dies unterstreicht nur noch die Schwierigkeiten, mit denen sich der Kampf gegen den Alkoholismus auseinandersetzen muss, seine verhältnismässig geringen Ergebnisse und die enormen Hindernisse, die ihm im Wege stehen, ja die heftigen Auseinandersetzungen, zu denen es in einigen Ländern seit seinem Beginn, vor mehr als einem Jahrhundert, gekommen ist.

Zusammenfassend kann gesagt werden: aus dem bisher zur Verfügung stehenden Material geht hervor, dass
1. ein Teil des Alkohols auf gemässigte, der andere auf übermässige Weise genossen wird, und
2. bisher noch kein "mässiger" Genuss ohne die Begleiterscheinung des "übermässigen" Genusses beobachtet werden konnte.

Schlussfolgerungen

Die beinahe mathematische Beziehung zwischen vernünftigem und unvernünftigem Alkoholgenuss, die aus dem zur Zeit zur Verfügung stehenden Material ausnahmslos hervorgeht, ist meiner Ansicht nach das wichtigste Ergebnis; denn sein Einfluss auf die Bekämpfung des Alkoholismus ist unmittelbar und lässt denjenigen, die glaubten, den Alkoholismus ohne Verminderung des Gesamtverbrauches, und demzufolge der Produktion, reduzieren zu können, wenig Hoffnung, es sei denn, unvorhergesehene Umstände treten ein.
Wenn diese Beziehung nicht unterbrochen werden kann, und wenn man der Ausmerzung der Trinksucht den Vorrang gibt, so verbleibt auf den ersten Blick als einzige Lösung die vollkommene Abschaffung des Alkohols in all seinen Formen.

Will man weniger scharf vorgehen, so kann man höchstens hoffen, die Lastenseite der Alkoholbilanz auf ein Minimum herabzudrücken denn die Beziehung ist rein statistischer Art, d. h. sie gestattet eine Streuung um die Zentraltendenz und das nicht mehr zu reduzierende Passiv als ein unvermeidliches Übel hinzunehmen. Die stillschweigende Duldung eines Übels ist eine in der Öffentlichkeit weit verbreitete Haltung, die mit dem Wunsch, es auf ein gesellschaftlich tragbares Mindestmass zu reduzieren, Hand in Hand geht.

Die Gesellschaft überlässt es dem einzelnen, wie er sich zum Alkoholgenuss verhalten will, während sie im erstgenannten Fall dem Individuum seine Verhaltensweise vorschreibt und für ihn entscheidet: keinen Alkohol. Die Frage der persönlichen Freiheit ist sehr vielschichtig; denn es handelt sich hier um eine Unabhängigkeit in der Abhängigkeit, d. h. um eine sehr relative Freiheit. Auf statistischer Ebene kann man nicht namentlich diejenigen bestimmen, die viel oder die wenig trinken; aber man weiß, dass es beide Kategorien gibt, und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, sobald man die gesamte, der Bevölkerung zur Verfügung gestellte Alkoholmenge kennt. Jeder einzelne erfreut sich also einer relativen Entscheidungsfreiheit. jedoch ist das Gesamtresultat im voraus bekannt.
Die Wahl zwischen den beiden oben genannten Haltungen ist letzten Endes eine Frage der Ethik, zu der sich ein taktisches Problem dessen gesellt, was man in Anbetracht bestehender Machtverhältnisse in jedem Fall zu unternehmen imstande ist.

***

Es bleibt eine Möglichkeit: die Beziehung "vernünftiger-unvernünftiger Alkoholgenuss" zu brechen. Ist sie möglich? Aus der Geschichte kennen wir kein Beispiel. Aber genügt dies allein, um auf die Unmöglichkeit des Unternehmens zu schliessen?

Eine ständige und umfangreiche Aufklärung der Öffentlichkeit, wie sie zum Beispiel in Frankreich von dem "Hohen Untersuchungs und Informationskomitee über den Alkoholismus¹" und von dem "Nationalen Schutzkomitee gegen den Alkoholismus²" u. a. durchgeführt werden, könnte vielleicht allmählich dahinführen. Die Häufigkeitskurve des Alkoholverbrauches ist von einem gewissen Ansteckungsprozess gekennzeichnet. Eine ständige und mit allen Mitteln durchgeführte Aufklärung der öffentlichen Meinung könnte mit der Zeit einen umgekehrt wirkenden Ansteckungsprozess auslösen, der im übrigen gefürchtet ist; denn Verworrenheit der Geister und Unwissen waren von jeher das ABC der Gegenpropaganda.
1) Haut Comité d'Etude et d'Information sur l'Alcoolisme (1954 -1991)
2) Comité National de Défense contre l'Alcoolisme, heute "Association Nationale de Prévention de l'Alcoolisme (A.N.P.A)"

Wir haben keine theoretische Untersuchung über die Resultate der beiden entgegengesetzten Ansteckungsprozesse angestellt und auch nicht zu ermitteln versucht, ob sie die Beziehung zu durchbrechen, d.h. den ganzen oder zumindest den größten Teil des Kurvenschwanzes der Verbrauchsfrequenzen zu tilgen vermag. Die Möglichkeit dieses Bruches kann deshalb nicht von vorneherein verneint werden. Auf jeden Fall kann er nur langsam vonstatten gehen, und um diese Chance nicht von vorneherein im Keim zu ersticken, muss die Information der Öffentlichkeit auf lange Sicht und mit umfangreichen Mitteln durchgeführt werden.

Veröffentlichungen zu diesem Thema von Sully Ledermann:
S. LEDERMANN, "Alcool, Alcoolisme, Alcoolisation". Bd. I., P. U. F., 1965, 314. S.
(Travaux et Documents, l. N. E. D., Heft 29)
item, Bd. II. P. U. F., Paris 1984, 613 S., (Travaux et Documents. I. N. E. D.. Heft 41)
.

Aber überrascht kann eigentlich niemand sein. Schon seit 1873, nach den Ausschreitungen der Commune, steht die öffentliche Trunkenheit unter Strafe. 1915 wurde der hochprozentige, von Zola drastisch als "Totschläger" beschriebene Absinth verboten. Das 1954 gegründete Haut Comité d'étude et d'information sur l'alcoolisme definierte die Abhängigkeit von berauschenden Getränken klipp und klar als psychische, glücklicherweise heilbare Krankheit. Seit 1991 beschränkt ein Gesetz die Werbung für Wein und andere Alkoholika.
(http://www.welt.de/data/2004/03/27/256664.html)

Die Untersuchungen von Ledermann haben weltweit die soziologische, ökonomische und politische Alkoholforschung angeregt und zu lebhaften Diskussionen geführt - obwohl nur wenige die oft zitierten Publikationen im französichen Originaltext verstanden. Er fand Niederschlag in vielen alkoholpolitischen Forderungen, z.B.:

Europäischer Aktionsplan Alkohol (1992)

Im Aktionsplan 1992 der WHO finden sich folgende Texte:
  "Bis zum Jahr 2000 sollte der gesundheitsschädigende Konsum Abhängigkeit bewirkender Stoffe wie Alkohol, ... in allen Mitgliedstaaten erheblich zurückgegangen sein.

  Dieses Ziel lässt sich erreichen, wenn auf allen Ebenen und in verschiedenen Bereichen in bezug auf den Konsum und die Herstellung dieser Substanzen ausgewogene Konzepte und Programme in die Praxis umgesetzt werden, mit dem Ziel ... den Alkoholkonsum um 25% zu senken, und dabei vor allem den schädlichen Konsum einzuschränken ...
  Eine an der gesamten Bevölkerung orientierte Strategie verspricht hier einen weit grösseren Nutzen für die Gesundheit. Dies nicht nur, weil eine generelle Reduzierung des Alkoholkonsums in der Bevölkerung die Probleme auf allen Ebenen des Alkoholkonsums reduzieren hilft, sondern auch deshalb, weil übermässiges Trinkverhalten und die damit verbundenen Probleme besonders sensibel für bevölkerungsbezogene Massnahmen sind.
  Eine bevölkerungsbezogene Strategie zielt auch darauf ab, die Einstellungen dessen, was unter "normalem Trinken" und "normalen Trinkgewohnheiten" zu verstehen ist, entsprechend zu verändern."(Auszug)


In der real existierenden Alkoholpolitik waren aber die von Ledermann voraus gesehenen Widerstände stärker; so fehlenden im EAAP 2000-2005 Zielvorgaben für die Konsumverminderung ganz.
In der Schweiz wurde eine millionenschwere Kampagne "Alles im Griff - Ein Programm zum Umgang mit Alkohol" gestartet, die den "unvernünften Konsum" vermindern solte. - Die Kampagne wurde allerdings 2005 ein Opfer der Sparwut der politischen Rechten und der Wirtschaftsvertreter - aber vom BAG vor dem endgültigen Untergang gerettet.

Auch der Kampagne zur Schadensvermindereung "nez rouge" wurde das Geld entzogen.
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Alkoholpolitik im Dienste der Gesundheit


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