Alkoholpolitik zwischen Wirtschaft und Gesundheit (1987)
(Eduard Muster)


Ich habe den Auftrag erhalten, über die Alkoholpolitik zwischen Wirtschaft und Gesundheit zu sprechen. Ich könnte mir diese Aufgabe leicht machen, indem ich wie Vielredner das oft machen, ein früheres Referat hervorhole. Dort steht geschrieben: "Eine Schweizerische Alkoholpolitik gibt es nicht." Damit wäre meine Aufgabe schon erledigt.

Gibt es eine Schweizerische Alkoholpolitik?

Ich muss gestehen, dass ich jenes Referat vor einem internationalen Publikum gehalten hatte. Und im Vergleich zu andern Ländern gibt es eine einheitliche Schweizerische Alkoholpolitik eben nicht. Wo finden sich Vorschriften über Produktion, Handel und Konsum alkoholischer Getränke?

1. Als Kantonal-Verband denken sie natürlich in erster Linie an eines der 26 kantonalen Gastwirtschaftsgesetze, in denen sich zahlreiche Bestimmungen über den Handel mit und den Ausschank von alkoholischen Getränken finden. In ihren Grundzügen stimmen diese Gesetze miteinander überein, in ihren Details unterscheiden sie sich auf spannende Weise voneinander. Nicht nur die Auslegung der Bedürfnisklausel und die Vorschriften über die Preisgestaltung alkoholfreier Getränke sind ungleich weit entwickelt, sogar die Polizeistunde ist von Kanton zu Kanton verschieden. In Grenzgebieten führt das zu einem mitternächtlichen Trinktourismus - von Einheimischen wohlverstanden, nicht von ausländischen Touristen.

Gemeinsam ist allen Gesetzen, dass sie aufgrund einer Erlaubnisklausel der Bundesverfassung die Handels und Gewerbefreiheit einschränken, soweit es das öffentliche Wohl fordert. Und damit stehen wir schon mitten in unserem Thema drin:

Aus privatwirtschaftlichem Interesse möchte jeder Gastwirt (wie jeder Verkäufer, Händler und Produzent) mit seinen Produkten möglichst grossen Gewinn erzielen. Dazu möchte er alle Mittel einsetzen, welche den Umsatz fördern können. Dieser Phantasie Grenzen setzen nun die kantonalen Wirtschaftsgesetze. Deren Einschränkungen, die ihnen wohl bekannt sind, müssen drei Kriterien Bestand halten:

Sie müssen in einem Gesetz stehen, das sich auf den entsprechenden Artikel der Bundesverfassung (1) berufen kann.

Sie müssen wirksam sein, d.h. den "Alkoholmissbrauch" vermindern. (In einem berühmten Entscheid hat das Bundesgericht entschieden, da insgesamt nur wenige wirksame Massnahmen zur Verfügung stünden, sei auch eine Massnahme gerechtfertigt, deren Wirkung zwar vorhanden, aber nur klein ist.)

Die Massnahmen müssen verhältnismässig sein, also nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen.

2. Sehr weitgehende Bestimmungen über die gebrannten Wasser finden sich im Alkoholgesetz. Die neuen Handels- und Reklameeinschränkungen dürften Ihnen bekannt sein. Warum erfasst das Alkoholgesetz nur die gebrannten Wasser, die doch bloss 20% des gesamten Alkoholkonsums ausmachen? Sind die anderen Getränke so harmlos oder werden sie nie missbraucht? Im Gegenteil: Leute mit hohem Alkoholkonsum decken einen grösseren Teil ihres Bedarfs mit Bier als Konsumenten mit bescheidenerem Trinkniveau. Diese trinken offensichtlich eher gelegentlich, was sich so anbietet.

Die Entstehung der Alkoholordnung ist historisch bedingt. Vor hundert Jahren wurde die Branntweinpest als ein so überragendes Problem wahrgenommen, dass eine ganzheitliche Angehung aller Alkoholprobleme nicht in Betracht gezogen wurde. Wein war das Getränk der Mittel- und Oberschicht, Bier war noch nicht das industrielle Massenprodukt und Obstwein wurde vor allem auf dem Lande getrunken. (Er bedrohte also die Leistungsfähigkeit der Industriearbeiterschaft nicht.)

Warum hat aber die volksgesundheitlich orientierte Alkoholordnung bis heute nicht nachgezogen? Dank der Alkoholgesetzgebung ist die Branntweinproblematik zurückgegangen und wir wissen heute, dass Bier und Wein nicht vor Torheit schützen.

In der Zwischenzeit hat sich die Bierproduktion industrialisiert und kartellisiert (2), sie ist zu einer wirtschaftlichen Macht geworden, die sich gegen politische Einschränkungen zu wehren wusste. Auch die Weinwirtschaft hat an politischem Gewicht zugenommen. Dies nicht etwa, weil sie wirtschaftlich so bedeutend ist. Es gelang aber den Weinproduzenten und den Importeuren ausländischen Weines, sich hinter dem schweizerischen knorrigen Rebbauern zu verstecken. ("Te voici, vigneron.")

3. Weitere interessante Einschränkungen der Handels und Gewerbefreiheit bei alkoholischen Getränken finden sich in der Lebensmittelgesetzgebung.

4. Strafbestimmungen gegen Missbrauch alkoholischer Getränke finden sich im Strassenverkehrsgesetz und im Strafgesetzbuch.

5. Wenn es um die Behandlung von Alkoholkranken, ganz allgemein um die Behebung alkoholbedingter Schäden geht, so müssen wir zu den Fürsorgegesetzen, heute meistens Sozialgesetze genannt, und zu den Gesundheitsgesetzen greifen.

6. Gesundheitserziehung bei Schülern stützt sich auf die 26 kantonalen Schulgesetze samt Lehrplänen, Gesundheitserziehung bei den Erwachsenen wird meistens nicht als nötig empfunden.

Wie verhindert man Alkoholprobleme?

Natürlich gehört auch, wie wir gesehen haben, die Behebung von alkoholbedingten Problemen zur Alkoholpolitik. Über das Prinzip besteht meistens Einhelligkeit. Auch Alkoholproduzenten und -händler wollen die Alkoholopfer aus dem Verkehr ziehen und Betrunkene nicht zum Verkehr zulassen. Die Art des Vorgehens ist aber manchmal umstritten. Häufig sind Alkoholkranke noch Patienten 2. Klasse.

Eigentlich wollte ich auf den grossen Widerspruch zwischen Wirtschaft und Gesundheit erst im Rahmen eines Gesamtbildes zu sprechen kommen. Aber wie sie gesehen haben, konnte ich nicht verhindern, schon bei der Darstellung der Gesetzgebung auf die Widersprüche hinzuweisen. Es handelt sich hier tatsächlich um ein tief greifendes Wertproblem. Wieviel wert ist uns die Wirtschaftsfreiheit, wieviel wert sind uns die privaten Gewinne, die mit alkoholischen Getränken (auch mit andern Suchtmitteln) sehr leicht zu machen sind? Wieviel Alkoholkranke, wieviel Verkehrstote, wieviel Leid und Schuld erträgt unsere Gesellschaft? Wieviel wert ist uns die Gesundheit unserer Jugend, die Gesundheit unseres Volkes, unsere eigene Gesundheit?

Wenn man auf eine Frage keine Antwort weiss, sagt man meistens: "Ja, das ist eine gute Frage." Wichtiger wäre es allerdings, gute Antworten zu finden.

Wenn es sich nur um eine Rechenaufgabe handelte, wäre eine Antwort leicht. (3) Der Akoholkonsum verursacht 2 Milliarden Kosten, er bringt 6 Milliarden ein also: 6 - 2 = 4. Oft wird noch einfacher gerechnet: 800 Millionen Steuern, 25 Millionen Alkoholzehntel = 775 Millionen. Wieviel kostet aber eine geschlagene Frau? Wieviel die Angst eines Kindes ? Wieviel der leere Platz am Tisch?

Hier handelt es sich um Wertfragen, um Fragen der Ethik, die nicht errechnet, sondern nur erdacht, erfühlt werden können. (Für mich wog die Broschüre "Wir haben immer Angst haben müssen" über alkoholbehinderte Kinder so viel, dass sie mich zu meinem heutigen Beruf geführt hat.)

Gibt es das Ei des Kolumbus?

Ich meine natürlich nicht das echte Ei des Kolumbus, das auf der Spitze steht, ohne dass es zerbrochen wird. Diese Frage hat sich der französische Forscher Sully Ledermann im Jahre 1964 am internationalen Kongress gegen Alkoholismus in Frankfurt gestellt: "Kann man den Alkoholismus ohne gleichzeitige Änderung des Gesamtverbrauches der Bevölkerung reduzieren?" Diesem Kolumbusei wird seit hundert Jahren nachgejagt. Ist es möglich, der Wirtschaft jene Freiheit zu gewähren, die ihr einen hohen Alkoholkonsum und hohe Verdienste sichert und dabei gleichzeitig die alkoholbedingten Probleme zu verringern? Sully Ledermann hat als erster mit wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen, dass es das nicht gibt.

Mit der Betrachtungsweise Ledermanns erhält auch die so trocken-statistisch-abstrakte Zahl des durchschnittlichen Alkoholkonsums einen Sinn. Sie wird damit zum Gegenspieler der ebenso statistisch-abstrakten Gesamtkosten des Alkoholkonsums. Beim Einzelfall stimmt jedermann zu: Wer mehr Alkohol trinkt, riskiert mehr alkoholbedingte Schäden. Genau dasselbe trifft für ein Land zu:

Je höher der Alkoholkonsum, desto höher die Schäden. Steigt der Alkoholkonsum, so steigen die Schäden; sinkt der Alkoholkonsum, so sinken die Schäden. Damit wird der Widerspruch zwischen Wirtschaft und Gesundheit noch einmal offensichtlich.

Dies erklärt auch die Schwierigkeit, auf die wir ständig stossen, wenn wir mit gesundheitspolitischen Massnahmen den Alkoholproblemen begegnen wollen. Und daher der starke Widerstand gegen die Einführung neuer Gesetze. Daher die Versuche, die Gesetze bis zum äussersten auszureizen.

Sie erwarten von mir nun sicherlich das Rezept, wie der Graben zwischen Gesundheit und Wirtschaft zu überbrücken sei. Dieses Rezept kann ich ihnen nicht bieten. Im alltäglichen Leben versuchen wir, eine solche Schlucht auf einem schwankenden Steg zu überqueren. Wenn wir in der Mitte des Steges stehen und nach unten blicken, so graust uns. Wenn wir eine schöne breite Brücke bauen mit Spuren für Autos und daneben hohe Lärmschutzwände aufbauen, dann nehmen wir die Schlucht gar nicht mehr wahr.

Damit ist aber das Problem nicht gelöst. Wir müssen den tosenden Wildbach zu einem freundlichen Wiesenbächlein machen, über das man ohne Angst zu Fuss springen kann, dann besteht zwar immer noch ein Widerspruch zwischen Gesundheit und Wirtschaft, aber der ist tragbar.

(Eduard Muster, Vortrag an der Versammlung des Verbandes der Abstinentenvereine des Kantons Bern in Langnau, Herbst 1987, Fassung Frühjahr 2004)


(1) Die Ausführungen beruhen auf den Bestimmungen in der alten Bundesverfassung (bis 1999):
Art. 32bis 1) Der Bund ist befugt, auf dem Wege der Gesetzgebung Vorschriften über die Herstellung, die Einfuhr, die Reinigung und die fiskalische Belastung gebrannter Wasser zu erlassen.
2) Die Gesetzgebung ist so zu gestalten, dass sie den Verbrauch von Trinkbranntwein und dementsprechend dessen Einfuhr und Herstellung vermindert...
Art: 32quater 1) Die Kantone können auf dem Wege der Gesetzgebung die Ausübung des Wirtschaftsgewerbes und des Kleinhandels mit geistigen Getränken den durch das öffentliche Wohl geforderten Beschränkungen unterwerfen...
(2) Das Kartell hat sich inzwischen aufgelöst, durch Fusionen und Aufkäufe - auch durch ausländische Brauereien - gibt es nur wenige, aber einflussreiche Mitspieler auf dem schweizerishen Markt:
Carlsberg (DK) mit Feldschlösschen, Cardinal... deckt 45% des Bierkonsums ab
Heineken (NL) mit Haldengut, Calanda... 20%
Eichhof ... 10%
Scottish & Newcastle (UK) mit Kronenbourg ... 4-5%
(3) Die Schätzungen für 1998 belaufen sich auf:
Direkte Kosten:            726,4 Mio Franken
Indirekte Kosten:       1'465,3 Mio Franken
Immaterielle Kosten: 4'288,7 Mio Franken
Total Soziale Kosten:   6'480,4 Mio Franken

Quelle: Bundesamt für Gesundheit - Soziale Kosten des Alkoholmissbrauchs


Dass diese Überlegungen im Grundsatz auch im 3. Jahrtausend noch richtig sind, bestätigt sogar die Weltbank in "World Bank > Health, Nutrition & Population > Public Health >Alcohol": "Does the level of alcohol consumption in populations matter? Yes. The levels of alcohol-related problems tend to rise and fall with changes in per capita alcohol consumption".

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Volksabstimmungen zur Alkoholpolitik: Sechs alkoholpolitische Kraftakte
 
Geschichte des Beirates von SAS - SFA/ISPA 1913-1982
Schweizerischer Rat für Alkoholprobleme
1995: Wirt ist ein ganz spezieller Beruf

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Alkoholpolitik zwischen Wirtschaft und Gesundheit
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Prof. Dr. Gustav von Bunge 1844 - 1920
Die Alkoholartikel der Bundesverfassung von 1885
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung Ende 1999
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung 2000
Ausserdem:
Chroniken zur schweizerischen Alkoholpolitik
Heim:
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