Gustav von Bunge
Lebensbild eines grossen Arztes und Forschers
Schulfunksendung von Joseph Odermatt, Schweizerische Zentralstelle gegen den Alkoholismus, Lausanne, 1963


Bunges Herkommen und Bildungsgang

Wissenschafter zogen von jeher gerne dorthin, wo sie für die Entfaltung ihres Geistes die günstigsten Bedingungen erblickten. Es ist ein Ruhm Basels, dass seine Universität immer wieder grosse Gelehrte anzog, denen die Stadt zur zweiten Heimat wurde.

Zu ihnen gehörte auch der 1844 in Dorpat (Tartu) geborene und 1920 in Basel gestorbene Physiologieprofessor Gustav von Bunge. Die Familie Bunge stammte ursprünglich aus Schweden, wo sie bereits zum Adelsstand gehörte, und wanderte um die Mitte des 19. Jahrhunderts in das von Peter dem Grossen dem Zarenreich einverleibte Estland ein. Die Bunges bildeten vor allem eine Gelehrtenfamilie, auch wenn einige von ihnen im russischen Staatsdienst hohe Ämter bekleidet haben. Der Vater des Basler Physiologen, Alexander von Bunge, ist einer der Gründer der Pflanzengeographie und unternahm Forschungsreisen, u. a. mit Alexander von Humboldt, im inneren und nördlichen Asien. Nach ihm erhielt ein Teil der Nordsibirischen Inseln den Namen Bunge Land 1.

Gustav von Bunge studierte an der Universität Dorpat, an der sein Vater Botanik lehrte und eine Reihe namhafter Gelehrter wirkten (wenigstens bis zur Russifizierung am Ende der 1880er Jahre). Er doktorierte 1874 in Chemie und habilitierte sich für das Fach Physiologie. Seine Antrittsvorlesung hielt er über «Das Rätsel des Lebens». Der berühmte, damals 82jährige Zoologe und Altmeister der Biologie, Karl Ernst von Baer2, sagte nach dieser Vorlesung, man sollte nicht dem neuen Dozenten, sondern der Universität gratulieren, dass sie einen solchen Dozenten gewonnen habe.
Bald folgten wissenschaftliche Untersuchungen über das Blut, die Milch, die Rolle des Eisens und des Kochsalzes, die Bunges Namen in Fachkreisen bekannt machten. Nach sechs Jahren Lehrtätigkeit liess er sich dispensieren, um in Leipzig medizinischen Studien obzuliegen; er promovierte dort 1882 zum Doktor der Medizin. Dann erhielt er Berufungen nach Riga, Kiew, Chicago und Basel. Letzterer Universität gab er den Vorzug. Basel war für den Physiologen mit dem Namen des grossen Vesal3, des Begründers der Menschenanatomie, verknüpft.

Das Vesalianum in Basel wurde übrigens für Bunge der Ort nicht nur seines Wirkens als Professor, sondern seines ganzen Lebens, indem ihm die Universitätsbehörde zwei Zimmer in der Mansarde als Wohnung zuwies.

Zwei Jahre nach dem 1885 erfolgten Antritt in Basel erschien Bunges «Lehrbuch der physiologischen und pathologischen Chemie», das rasch in mehreren Auflagen herauskam. Im Jahre 1901 folgte das zweibändige «Lehrbuch der Physiologie des Menschen» und 1905 das «Lehrbuch der organischen Chemie für Mediziner», Werke, die ebenfalls neu aufgelegt wurden. Es war nicht nur der umfassende, grosszügige Blick des Gelehrten über die behandelten Gebiete, welche die grosse Verbreitung der Bungeschen Lehrbücher erklärt, sondern auch das klare klassische Deutsch, in welchem sie verfasst sind.
(Biographie ergänzt. Webm.)

Bunge

Wissenschaftliche Forschung

Bunges Interesse galt in einer fast leidenschaftlichen Art dem Schutz des Lebens in seiner höchsten Vollendung als menschlichem Leben. Noch zu seiner Zeit ging die Medizin fast in der Behandlung des krank gewordenen Lebens auf. Bunge sagte: «Wir brauchen zweierlei Mediziner: solche, die für das Verhüten, und solche, die für das Kurieren bezahlt werden.»
Es ist kein Zufall, dass die Milch den Forscher in besonderer Weise beschäftigte, ist sie doch die erste Nahrung und damit der Aufbaustoff des Säuglings. Bunge zog die Aufmerksamkeit seiner Schüler auf die wunderbare Zweckmässigkeit des Lebens, die sich darin äussert, dass das Blut des Muttertieres eine andere chemische Zusammensetzung aufweist als dessen Milch, obwohl die Milchdrüse die Milch aus dem Blut gewinnt, dass dafür aber die Zusammensetzung der Milch fast genau derjenigen des Körpers des Säuglings entspricht. Bunge verglich unter diesem Gesichtswinkel insbesondere Kuhmilch und Frauenmilch:

  CaO Fe2O3 P2O5
Kuhmilch 1,511 0,003 1,86
Frauenmilch 0,243 0,004 0,35
(auf 100 Gewichtsteile der Trockensubstanz)

Bunge zeigte, wie diese Verhältniszahlen auf die Bedürfnisse des betreffenden Säuglings eingestellt sind, und erklärte den im Vergleich zur Frauenmilch sechsmal höheren Kalkgehalt der Kuhmilch dadurch, dass eben das Kälblein so viel rascher heranwachse als das Menschenkind.
Immer des grossen Rätsels des Lebens bewusst, bekämpfte Bunge auch die damalige Neigung besonders deutscher Gelehrter, das vorläufige Wissen als das ganze Wissen hinzustellen. Bunge ahnte das Walten geheimer, seiner Zeit noch nicht bekannter Kräfte in der Natur. Ob Eiweiss, Fett, Zucker, Salze und Wasser wirklich alle zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit unentbehrlichen Stoffe umfassten, wie manche Wissenschafter damals behaupteten und was schon den Gedanken an chemisch hergestellte Nahrungsmittel in Pillenform aufkommen liess , das könne einzig die wissenschaftliche Beobachtung beweisen. So stellten Schüler Bunges Tierversuche an, bei denen Jungtiere die genannten Stoffe in zureichender Menge, aber in chemisch gereinigter Form erhielten, während Vergleichstiere diese Stoffe zwar in gleicher Menge, aber in Form von Milch bekamen. Während die ersten nach einiger Zeit zugrunde gingen. gediehen die zweiten.

Das zeigte unwiderleglich, dass in der Milch lebensnotwendige Stoffe enthalten sind, die man damals noch nicht kannte. Heute kennen wir diese Stoffe unter dem Namen Vitamine, die gerade in der Milch mannigfach vertreten sind. Bunge war so ein Künder der Vitamine. Besonders die unter seiner Leitung angestellten Versuche des Russen Lunin, der Schweizer Hans Iselin, später Professor der Chirurgie, und Paul Knapp, Professor der Ophthalmologie, gehören der Vorgeschichte der Vitaminforschung an. Ein anderer Bunge-Schüler, Emil Abderhalden, Sohn eines Lehrers aus Oberuzwil, wurde zum Entdecker anderer geheimnisvoller, ebenfalls in der Milch enthaltener Schutzstoffe, der sogenannten Abwehrfermente.

Bunges Gesundheitsgewissen wurde auch durch den schon um die Jahrhundertwende stark steigenden Zuckerkonsum geweckt. Nicht dass Bunge den Zucker als solchen für schädlich gehalten hätte; Zucker ist ja der Treibstoff des Muskels, und gerade Kinder haben wegen ihres grossen Bewegungsdranges ein besonderes Bedürfnis danach. Er umriss die drohende Gefahr sehr klar wie folgt: «Alle unsere natürlichen Nahrungsmittel sind nicht chemische Individuen, sondern Gemenge einer ganzen Reihe chemischer Individuen . . . Wenn man nun aus allen diesen unentbehrlichen Stoffen einen einzigen. ein Kohlehydrat, den Zucker, herausgreift, ihn chemisch isoliert und allein oder mit geringen Zutaten geniesst, so werden dem Organismus zu kleine Mengen der anderen unentbehrlichen Nahrungsstoffe zugeführt.» Er wies insbesondere auf den damit drohenden Ausfall an Kalk hin, «an dem unsere Nahrung oft ohnehin schon viel zu arm ist». Niemand war weniger fanatisch als Bunge. Er schrieb in bezug auf das Zuckerthema: «Es ist ein verbreiteter Volksglaube, dass der Zucker die Zähne schlecht mache. Wenn dieses richtig ist, so liegt das jedenfalls nicht daran, dass das mechanische Zerbeissen des Zuckers die Zähne schädigt, ebenso wenig daran, dass die Säuren. die durch Gärung aus dem Zucker im Munde entstehen, die Zähne angreifen der Zucker ist ja gerade dasjenige Kohlehydrat, welches die kürzeste Zeit zwischen den Zähnen verweilt , sondern es liegt daran, dass infolge der Sättigung mit Zucker weniger Vegetabilien genossen werden, welche uns die Kalksalze zur Ernährung der Zähne zuführen.»
Nebenbei sei bemerkt, dass der Zuckerkonsum des Schweizervolkes je Kopf zu jener Zeit weniger als die Hälfte des heutigen betrug. Die gewaltige Ausbreitung der Zahnkaries schon bei den Kindern ist also leicht zu erklären.

bunge Förderer der Gesundheit

Der Förderer der Abstinenzbewegung

Bunges Interessen galten stets praktisch bedeutsamen Fragen. Keiner war weniger Theoretiker als er. So ist es, nicht erstaunlich, dass auch dort, wo man theoretische Voraussetzungen anzunehmen geneigt sein könnte, dies nicht zutrifft, nämlich bei Bunges Eintreten für die Abstinenz. Für den obligaten öffentlichen Vortrag, mit dem sich in Basel neue Dozenten der Universität einem breiteren Publikum vorzustellen pflegten, hatte er es war im November 1886 den Titel «Die Alkoholfrage» gewählt.
Die Abstinenzbewegung war in der Schweiz schon 1877 durch den Genfer Pfarrer Louis Lucien Rochat in Form des Vereins vom Blauen Kreuz eingeführt worden, wenn man auch gewissermassen den Berner Gelehrten Albrecht von Haller (1708 1777), nach dessen eigenem Zeugnis, als Abstinenten anführen könnte. Aber beim Blauen Kreuz handelte es sich um eine religiös fundierte Bewegung. Den Vortrag, der in etwa zwanzig Sprachen übersetzt wurde, begann Bunge mit der Feststellung, dass die Alkoholfrage zunächst eine physiologische Frage sei. Den Vorwurf der Askese wies er entschieden zurück und anerkannte durchaus die Berechtigung des Strebens nach Erhöhung unserer Tafelfreuden, sollte doch nach ihm jede Mahlzeit ein Fest sein. Er befasste sich auch nicht mit dem damals noch gar nicht wissenschaftlich erforschten Problem der Schädlichkeit kleiner Alkoholmengen. Er brauchte dieses Argument nicht. Er ging von Tatsachen wie den folgenden aus:
Gewiss gab es von jeher den Alkoholismus einer Oberschicht und den Festtagsalkoholismus des Volkes; erst in der Neuzeit aber tritt der Alkoholismus als Massenerscheinung auf. Früher hatten die Armut des Volkes und periodische Missernten die Alkoholgefahr eingedämmt; nun wurden die alkoholischen Getränke immer mehr zu einer regelmässigen Verbrauchsware, die überall und zu jeder Zeit angeboten wurde. Seit dem Dreissigjährigen Kriege, besonders aber seit den napoleonischen Feldzügen, gefolgt von der Ausbreitung des billigen Kartoffelschnapses, hatte sich der Branntwein zu den gegorenen Getränken gesellt. Die heilsame, ernüchternde Wirkung periodischer Missernten im einheimischen Wein und Obstbau fiel immer mehr weg, seitdem die Eisenbahn den Ausfall an landeseigenen Weinen rasch und sicher mehr ans ausglich. Dank der Gärungsforschung und der Kältemaschine konnte sich die Bierbrauerei zu einem technisch und kommerziell höchst leistungsfähigen, auf unaufhörliche Steigerung des Konsums eingestellten Gewerbe entwickeln.
Das stets wachsende Angebot von alkoholischen Getränken begünstigte alte und schuf neue Alkoholsitten. Immer ausgesprochener wurde alles, was man tat, von Trinken begleitet. Jahrhundertealter Volksglaube vom Wert des Alkohols begünstigte solche Entwicklungen. Lange vor den modernen Büchern über Massenpsychologie betonte Bunge die unwiderstehliche Macht des Nachahmungstriebes und damit die Macht der Alkoholsitten. «Wir dürfen nicht vergessen», sagte er, «dass die grosse Mehrzahl der Menschen überhaupt nicht nach Gründen fragt. Sie fragen niemals: Warum soll ich des machen? , sondern immer nur: Wie macht man es?»
Tatsache war es auch, dass in der Schweiz unzählige Menschen an der Trunksucht zugrunde gingen und zahllose Kinder und Frauen indirekt zu Opfern des Alkoholismus wurden. Bunge sprach eine Wahrheit aus, die heute auch von allen ärztlichen Spezialisten anerkannt wird, wenn er schrieb. «Es ist noch niemals ein Trinker gerettet worden durch den Vorsatz der Mässigkeit. In allen Fällen, in denen dies gelingt, gelingt es Immer nur durch die Überzeugung, dass die einzige Rettung die Vermeidung des ersten Glases ist.» Gewiss gibt es innere Ursachen, die zur Trunksucht disponieren können; aber die weitaus grösste Zahl von Alkoholikern sind Opfer der allgemein herrschenden und zu Bunges Zeit auch in akademischen Kreisen despotischen – Alkoholsitten. Diese Sitten ändert man aber nicht dadurch und wer wollte Bunge hierin widersprechen? , dass man sie nur in mässiger Weise mitmacht, sondern dadurch. dass man sie nicht mitmacht, ihnen neue Sitten gegenüberstellt.
Der berühmte Basler Physiologieprofessor hielt es nebenbei gesagt nicht unter
seiner Würde, an Sitzungen von Basler Abstinenzvereinen Seite an Seite mit zu rettenden Trinkern teilzunehmen. Auf der anderen Seite fand er seine grösste Freude an einem grossen Kreis junger Menschen, die sich um ihn sammelten und seine Leitgedanken tatkräftig verbreiteten.

Das moderne Alkoholproblem

Bunge hat die ungeheure Aktualität nicht mehr erlebt, die das Alkoholproblem mit dem Anbruch des technischen Zeitalters erfahren hat: mit dem motorisierten Strassenverkehr, dem Eindringen oft gefährlicher Maschinen in Gewerbe, Landwirtschaft und Armee, der erhöhten Arbeitsdisziplin . . . aber auch mit einer alle Schwächen der menschlichen Natur ausbeutenden, von Verantwortungsgeist unbeschwerten Reklametechnik.
Nachdem die Alkoholgefahr in der Zwischenkriegszeit eine Rückbildung erfahren hat' ist sie im Zeichen der Hochkonjunktur wieder beunruhigend im Vordringen begriffen: Gegen
über den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg ergibt sich eine Zunahme des Verbrauches je Kopf um 30% beim Bier, um 40% bei den gebrannten Getränken; Verfünffachung des Whiskyimportes innert einem halben Dutzend Jahren; Verdoppelung der Zahl von Todesfällen an alkoholischer Leberzirrhose dieses Gradmessers des Alkoholfiebers in einem Land. Die Warnrufe von Spitalärzten über die auffallende Häufigkeit von Trinkern in den medizinischen Abteilungen für Männer, sowie der Direktoren von Heil- und Pflegeanstalten über den hohen Anteil von Alkoholpsychosen unter den männlichen Erstaufnahmen und andere Zeichen dürften bewirken, dass sich die Aufmerksamkeit verantwortungsbewusster Magistraten, Mediziner, Erzieher und Volksfreunde in steigendem Masse wieder der Alkoholfrage zuwendet.
Von Bunge darf man sagen. was nicht von allen Gelehrten gesagt werden dürfte, nämlich, dass er nicht nur grosses Wissen, sondern auch ein waches Gewissen besass.
(Joseph Odermatt)


Anmerkungen des Webmasters:
1
Bunge Land in den Neusibirischen Inseln in der russischen Arktis.
Bunge-Land is one of the least studied regions of he New Siberian Archipelago.
Entdeckungs- und Erkundungsgeschichte der Neusibirischen Inseln.

2Karl Ernst von Baer, 1792 -1876, Entdecker der Eizelle von Säugetieren; "Humboldt des Nordens" genannt.
Biographie bei Wikipedia.
Home page of Karl Ernst von Baer.
Karl Ernst von Baer-Stiftung.
Karl Ernst von Baer (1792-1876), Entdecker der Eizelle von Säuger und Mensch.

3 Andreas Vesal (1514–1564) gilt allgemein als der Begründer der modernen Anatomie. 1537 wurde Andreas Vesal an der Universität Padua zum ersten Professor für Anatomie ernannt. Vesal war zur Drucküberwachung seines grossen Anatomiewerkes De humani corporis fabrica von 1542–1543 in Basel und unterrichtete in dieser Zeit an der Universität. Das «Vesalsche Skelettpräparat» in der Sammlung der Universität Basel stammt von einem in Basel hingerichteten Verbrecher.
Abenteuerlicher Beginn der Anatomie in Basel.
Biographie bei Wikipedia.


Universität Tartu
Universität Tartu

Zur Geburtsstadt von Bunge: Tartu - die Stadt der guten Gedanken - Tartu - Wikipedia

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Die Alkoholfrage, Vortrag von G. v. Bunge

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Beiträge zur Alkohol-Geschichte der Schweiz
(Einleitung, Index)
http://www.edimuster.ch/: Hier ist die Familie Muster in Ecublens VD - Eduard Muster: emuster@hotmail.com 23/02/07