Die Alkoholfrage


Ein Vortrag von Dr. med. Gustav von Bunge
ord. Professor der physiologischen Chemie der Universität Basel
gehalten als Antrittsvorlesung am 23. November 1886

Nebst einem Anhang: "Ein Wort an die Arbeiter"
(Ausgabe 1941, Alkoholgegner-Verlag, Lausanne)


Hochgeehrte Versammlung!
   Der Gegenstand. für den ich Ihre Aufmerksamkeit mir erbeten habe, ist in unsern Tagen so vielfach behandelt worden in Vorträgen, in Zeitschriften, in öffentlichen Debatten, dass es anmassend erscheinen muss, wenn wiederum jemand in dieser Frage eine Stunde lang allein das Wort führen will. Und dennoch fühle ich mich dazu berufen. Denn die Alkoholfrage ist zunächst eine physiologische Frage, und die physiologische Erkenntnis, welche einer richtigen Beurteilung dieser Frage zugrunde gelegt werden muss, ist noch immer nicht ins Publikum gedrungen. Gestatten Sie mir alles, was sich streng wissenschaftlich über diese Frage aussagen lässt, Ihnen darzulegen.
   Wir wissen, dass der Alkohol in unserm Körper verbrennt. Er ist somit eine Quelle der "lebendigen Kraft". Daraus folgt aber noch nicht, dass er ein Nahrungsstoff sei. Um diese Annahme zu begründen, müsste zuvor der Nachweis geliefert werden, dass die aus seiner Verbrennung hervorgehende lebendige Kraft Verwertung finde zur Verrichtung einer normalen Funktion. Es ist nicht genug, dass chemische Spannkraft in lebendige Kraft sich umsetzt. Die Umsetzung muss zur rechten Zeit am rechten Orte vor sich gehen, an ganz bestimmten Punkten ganz bestimmter Gewebselemente. Wir wissen nicht, ob die Muskelfaser, die Nervenzelle den Alkohol als Kraftquelle verwerten könne. Unsere Gewebe sind gar nicht darauf eingerichtet, mit jedem beliebigen Material gespeist zu werden; sie entnehmen dem Blute ganz bestimmte Nahrungsstoffe; sie weisen das Fremde, das Schädliche zurück.
    Man wird nun einwenden, als Wärme müsse doch jedenfalls die aus der Verbrennung des Alkohols hervorgehende lebendige Kraft unserm Körper zugute kommen. Aber auch dieses ist nicht zuzugeben. Denn wenn der Alkohol die Wärmequellen vermehrt, so vermehrt er auf der andern Seite die Wärmeabgabe. Diese letztere überwiegt: das Gesamtresultat ist eine Temperaturverminderung.
   Die vermehrte Wärmeabgabe kommt folgendermassen zustande. Der Alkohol bewirkt eine Erweiterung der Blutgefässe in der Haut; infolgedessen strömt mehr warmes Blut durch die kühle Oberfläche; es wird mehr Wärme nach aussen abgegeben. Die Erweiterung der Blutgefässe ist folgendermassen zu erklären. In den Wandungen der Blutgefässe befinden sich kleine Ringmuskeln, die beständig in aktiver Kontraktion sind. Der Anstoss zu dieser Kontraktion geht von gewissen Nervenfasern aus, die zu den Ringmuskeln verlaufen und die alle ein gemeinsames Zentrum im Gehirne haben. Der Alkohol lähmt dieses Zentrum, der Nervenreiz hört auf, die Ringmuskeln erschlaffen, die Blutgefässe erweitern sich, die Haut wird blutreicher und gibt dieses durch die rote Färbung zu erkennen. Die Rötung der Wangen nach Weingenuss, welche immer als erregende Wirkung des Alkohols gedeutet wird, ist also eine Lähmungserscheinung.
   Der Laie sagt, der Alkohol wärme ihn bei kaltem Wetter. Dieses Wärmegefühl ist eine Selbsttäuschung; er fühlt das warme Blut in vermehrter Menge zur Haut strömen. Tatsächlich aber ist er nicht erwärmt, sondern abgekühlt. Die Täuschung kommt vielleicht auch dadurch zustande, dass die Hirncentra gelähmt, betäubt werden, welche die Kälteempfindung vermitteln.
   Überhaupt lässt es sich nachweisen, dass alle Wirkungen des Alkohols, die gewöhnlich als Erregung gedeutet werden, im Grunde nur Lähmungserscheinungen sind.
   Eine Lähmungserscheinung sind insbesondere die psychischen Wirkungen. Diejenige Gehirnfunktion nämlich, die bei der beginnenden Lähmung zunächst geschwächt wird, ist das klare Urteil, die Kritik. Infolgedessen prävaliert das Gemütsleben, befreit von den Fesseln der Kritik. Der Mensch wird offenherzig und mitteilsam, er wird sorglos und lebensmutig er sieht eben nicht mehr klar die Gefahren. Vor allem aber äussert sich die lähmende Wirkung des Alkohols darin, dass er jedes Gefühl des Missbehagens und des Schmerzes betäubt, und zwar zunächst die bittersten Schmerzen, die psychischen Schmerzen: den Kummer, die Sorgen. Daher die heitere Stimmung, die sich der trinkenden Gesellschaft bemächtigt. Niemals aber wird ein Mensch durch geistige Getränke geistreich. Dieses so verbreitete Vorurteil beruht auf einer Selbsttäuschung; es ist gleichfalls nur ein Symptom der beginnenden Hirnlähmung: in dem Masse, als die Selbstkritik sinkt, steigt die Selbstgefälligkeit.
   Eine Folge der beginnenden Hirnlähmung sind auch die lebhaften Gestikulationen und unnützen Kraftäusserungen der Trunkenen. Die hemmende Schranke ist beseitigt, welche der Nüchterne jedem Anlass zu unnötigen Bewegungen entgegenstellt, um seine Kräfte zu schonen. Damit hängt auch die gesteigerte Herztätigkeit, die vermehrte Pulsfrequenz zusammen, welche immer als Beweis für die erregende Wirkung des Alkohols geltend gemacht wird. Die gesteigerte Herztätigkeit ist keine direkte Alkoholwirkung, sondern wird durch die Situation herbeigeführt, in der die alkoholischen Getränke gewöhnlich genossen werden. Lässt man einen vernünftigen Menschen ruhig liegen und gibt ihm Wein zu trinken, so kann man sich davon überzeugen, dass die Herztätigkeit sich gar nicht ändert. Ganz anders in der trinkenden Gesellschaft: die Kritik wird gelähmt, der Mensch schwatzt unnütz; die Selbstbeherrschung wird gelähmt, er gestikuliert unnütz, er ereifert sich unnütz, so kommt es zur gesteigerten Herzaktion.
   Zu den Lähmungserscheinungen, die gewöhnlich als Erregung gedeutet werden, gehört auch die Betäubung des Müdigkeitsgefühles. Es ist ein festgewurzelter Glaube, dass der Alkohol den Müden stärke zu neuer Leistung und Anstrengung. Das Müdigkeitsgefühl ist das Sicherheitsventil an unserer Maschine. Wer das Müdigkeitsgefühl betäubt, um weiterzuarbeiten, gleicht dem, der gewaltsam das Ventil verschliesst, um die Maschine überheizen zu können.
   Der Irrtum, dass der Alkohol den Müden stärke, wird gerade für die zahlreichste Volksklasse ganz besonders verhängnisvoll. Die armen Leute, deren Einkommen zu einem menschenwürdigen Dasein ohnehin nicht ausreicht, werden durch dieses Vorurteil dazu verleitet, einen sehr bedeutenden Teil ihrer Einnahme zu verausgaben für alkoholische Getränke, statt für reichliche und wohlschmeckende Nahrung, welche allein sie stärken kann zu ihrer schweren Arbeit.
   Dass dieses Vorurteil von der stärkenden Wirkung des Alkohols so unausrottbar ist, erklärt sich aus den Erfahrungen der Gewohnheitstrinker. Wer einmal an regelmässige Aufnahme von Alkohol gewöhnt ist, wird in der Tat durch den Alkohol leistungsfähiger, als er bei plötzlicher, vollständiger Entziehung sein würde. Erklären lässt sich diese Erscheinung vorläufig nicht, sie ist aber der Wirkung anderer Gifte auf den daran Gewöhnten vollkommen analog. Wenn man einem Morphiumsüchtigen das Morphium entzieht, so kann er weder arbeiten, noch schlafen, noch essen er wird durch das Morphium "gestärkt". Wer aber an kein Narkotikum gewöhnt ist, wird auch durch kein Narkotikum leistungsfähiger.
   Besser als durch alle wissenschaftlichen Deduktionen wird die völlige Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit auch der mässigsten Alkoholdosen bewiesen durch die tausendfachen Massenexperimente, welche bei der Verpflegung der Heere gemacht worden sind und welche bereits festgestellt haben, dass die Soldaten in Kriegs und Friedenszeiten, in allen Klimaten, bei Hitze, Regen und Kälte alle Strapazen der angestrengtesten Märsche am besten ertragen, wenn man ihnen vollständig alle alkoholischen Getränke entzieht.
   Diese Erfahrungen wurden im englischen Heere auf den Feldzügen im Kaffernlande, in Westafrika im Aschantikriege, in Canada und in Indien gemacht. Besonders lehrreich sind die Beobachtungen an den "Teetotalern", welche im englischen Heere zahlreich vertreten sind. Diese haben bekanntlich gelobt, keinen Tropfen alkoholischer Getränke zu trinken; sie tranken also auch in den Perioden nichts, in welchen den übrigen Soldaten mässige Rationen alkoholischer Getränke verabfolgt wurden; sie marschierten mit den übrigen und machten genau dieselben Strapazen durch, und es wurde konstatiert, dass die Teetotaler die Strapazen besser ertrugen und dass die Morbidität und Mortalität unter ihnen geringer war. Das Experiment ist insofern besonders lehrreich und stringent, als es sich ja nicht darum handelte, völlig Enthaltsame mit Unmässigen zu vergleichen, sondern mit sehr mässig Trinkenden. Die Soldaten hatten absolut keine Gelegenheit, sich mehr Alkohol zu verschaffen, als die sehr mässigen Quantitäten, die ihnen verabfolgt wurden.
    Dieselben Erfahrungen wurden auch im nordamerikanischen Heere bei abwechselnder Darreichung mässiger Alkoholrationen und völliger Entziehung gemacht. Doktor Frank H. Hamilton äussert sich darüber folgendermassen: "Es ist dringend zu wünschen, dass solche Experimente in den Armeen der Vereinigten Staaten nicht mehr wiederholt werden. Wir sind durch Erfahrung und Beobachtung zu der sichern Überzeugung gelangt, dass der gewöhnliche Gebrauch von Alkohol bei gesunden Personen unter keinen Umständen nützlich ist. Wir machen keine Ausnahme bei Kälte, Hitze, Regen, oder selbst bei frühern Trinkern, sobald sie Soldaten sind."
   Zum gleichen Resultat ist man auch in der Marine gelangt, ebenso auf den Kauffahrteischiffen, von denen Tausende in Amerika und England in See gehen ohne einen Tropfen Alkohol an Bord. Diese Erfahrung wurde sowohl im tropischen und gemässigten Klima als ganz besonders in den Polarregionen gemacht. Die meisten Walfischfahrer sind vollständige "Abstainers" und haben keinen Tropfen alkoholischer Getränke an Bord bei ihren gewaltigen Strapazen.
   Und was von der körperlichen Anstrengung gilt, das gilt auch von der geistigen. Jeder, der den Versuch gemacht hat, gibt unbedingt zu, dass geistige Arbeit jeder Art am besten ertragen wird, wenn man vollständig auf alle alkoholischen Getränke verzichtet.
Der Alkohol stärkt also niemanden; er betäubt nur das Müdigkeitsgefühl.
   Zu den quälenden Gefühlen, die der Alkohol betäubt, gehört auch das Gefühl der langen Weile. Die lange Weile aber ist, wie das Müdigkeitsgefühl, eine Vorrichtung zur Selbstregulierung in unserm Organismus. Wie uns das Müdigkeitsgefühl zur Ruhe zwingt, so zwingt uns das quälende Gefühl der langen Weile zur Arbeit und Anstrengung, ohne welche unsere Muskeln und Nerven atrophieren, erschlaffen würden und ein gesunder Zustand nicht möglich wäre. Wird die lange Weile nicht durch Anstrengungen irgend welcher Art beseitigt, so schwillt sie stetig an und gestaltet sich schliesslich zu einer wahrhaft dämonischen Macht. Es ist interessant, zu beobachten, zu wie verzweifelten Mitteln träge und hohle Menschen ihre Zuflucht nehmen, um ohne eigene Anstrengung dem Dämon der langen Weile zu entrinnen. Rastlos treibt er sie durch ununterbrochene Geselligkeit von einem Orte zum andern, von einer Zerstreuung zur andern. Aber alle diese Fluchtversuche wären vergeblich: die Menschen würden sich schliesslich doch gezwungen sehen, in irgend einer Weise ihr Hirn und ihre Muskeln anzustrengen, um das Gefühl der Ruhe und Befriedigung wieder zu gewinnen und die eigene Leere auszufüllen, wenn sie nicht den AIkohol hätten. Der Alkohol befreit sie sanft und leicht von dem Dämon. Dem Trinker und der trinkenden Gesellschaft kommt die eigene Öde und Leere niemals zum Bewusstsein. Sie brauchen keine Interessen, keine Ideale; sie haben ja die Wonne, das Behagen der Narkose. Nichts ist für die Entwicklung eines Menschen verhängnisvoller, nichts untergräbt und zerstört in dem Grade das Beste was er hat, nichts ertötet mit so unfehlbarer Sicherheit jeden Rest an Energie, wie die fortgesetzte Betäubung der langen Weile durch den Alkohol.
   Es muss in dieser Hinsicht betont werden, dass unter den alkoholischen Getränken das Bier das allerschädlichste ist, weil kein anderes in dem Masse dazu sich eignet zur Betäubung der langen Weile missbraucht zu werden. Der Philister ist immer mir entsetzt, wenn ein Mensch "durch den Branntwein" zum Dieb oder Mörder wird. Dass Tausende beim Bier verdummen, versimpeln und verlumpen, lässt ihn völlig kalt und gleichgültig. Das stört ihn ja nicht in seiner egoistischen Gemütsruhe. Das Bier ist schon aus dem Grunde das schädlichste unter den alkoholischen Getränken, weil kein anderes so verführerisch ist. Branntwein zu trinken gilt in allen Volksklassen für eine Schande; mit unmässigem Biertrinken renommiert die geistige Elite unserer Nation.
   An kein anderes Getränk findet so rasch Gewöhnung statt, wie an das Bier, und kein anderes verdirbt so rasch den Appetit nach der normalen Nahrung und nach unschädlichen Genussmitteln. Kein anderes Getränk verleitet so sehr zur Unmässigkeit.
   Die Verteidiger des Bieres pflegen zu seinen Gunsten geltend zu machen, dasselbe sei zugleich ein Nahrungsmittel. Nun lässt es sich allerdings nicht leugnen, dass das Bier ganz bedeutende Mengen an Kohlehydraten - Dextrin und Zucker - enthält. Aber gerade an Kohlehydraten ist ja in der Nahrung der meisten Menschen kein Mangel, sondern bereits ein Überfluss. Es liegt also gar kein Grund vor, in dieser teuersten Form noch Kohlehydrate zur Nahrung hinzuzufügen.
Zugunsten der verdünnten alkoholischen Getränke - Bier und Wein - wird ferner geltend gemacht, dass sie die Verdauung fördern. Tatsächlich aber wissen wir, dass das Gegenteil der Fall ist. Vielfache Versuche an Menschen und Tieren, insbesondere Versuche am Menschen mit Hilfe der Magenpumpe und direkte Beobachtungen an Personen mit Magenfisteln haben übereinstimmend ergeben, dass schon mässige Dosen Bier und Wein hinreichen, die Verdauung erheblich zu verlangsamen und zu stören.
   Dass der mässige Genuss alkoholischer Getränke nicht bloss nutzlos, sondern in hohem Grade schädlich ist, geht ferner ganz unzweideutig hervor aus der Statistik englischer Lebensversicherungsgesellschaften, welche bekanntlich festgestellt haben, dass die durchschnittliche Lebensdauer der völlig Enthaltsamen eine bedeutend längere ist, als die der mässig Trinkenden.
Tatsächlich gewähren diese Gesellschaften den Enthaltsamen 10-15 Prozent Prämienrabatt.
   Von der Frage nach der Bedeutung der alkoholischen Getränke als Genussmittel streng zu scheiden ist die Frage nach ihrem Werte als Arzneimittel. Als Arzneimittel ist der Alkohol nach Ansicht vieler Ärzte vorläufig nicht zu entbehren. Beweise für eine günstige Wirkung sind bisher nicht beigebracht worden.
   Selbstverständlich aber für jeden denkenden Menschen ist es, dass alkoholische Getränke immer nur verordnet werden dürfen gegen akute Leiden, zur Linderung vorübergehender Zustände; niemals gegen chronische, aus demselben Grunde, aus welchem man nicht Morphium und Chloralhydrat gegen chronische Leiden verordnen darf - es sei denn, dass es sich um "Euthanasie" handelt, um Erleichterung des Sterbens.
   Eine sehr gewöhnliche Ausrede der Ärzte und Biertrinker ist die, dass das Wasser so ungesund sei. Hierauf muss erwidert werden, dass die Nachlässigkeit der meisten Menschen beim Beschaffen des Trinkwassers eine ganz grenzenlose ist. Den Wein aus Bordeaux zu beziehen und das Bier aus München gilt für eine Kleinigkeit. Das Wasser aus dem Brunnen des Nachbars zu holen, hält man für unausführbar. Würde nur ein Hundertstel der Zeit und Kraft, welche die Alkoholproduktion absorbiert, auf die Beschaffung guten Trinkwassers verwandt, so würde niemand in die Lage kommen, gesundheitsschädliches Wasser zu trinken. Trotz des schlechten Trinkwassers aber ist die Morbidität und Mortalität bei den Wassertrinkern eine auffallend viel geringere, als bei den mässigen Wein- und Biertrinkern, wie die erwähnten Erfahrungen im englischen Heer und in den englischen Lebensversicherungsgesellschaften unzweifelhaft beweisen.
   Viele Personen sagen, sie trinken gar nicht den Alkohol um der Wirkung willen, sie trinken nur den edlen Rebensaft um des Wohlgeschmackes willen. Hier liegt etwas Berechtigtes; es ist durchaus berechtigt, dass wir darauf ausgehen, unsere Tafelfreuden zu erhöhen. Aber die Freuden, die der Duft und Wohlgeschmack des Weines bereiten, werden ja zu teuer erkauft - auf Kosten anderer Tafelfreuden. Durch den Genuss alkoholischer Getränke wird die ganze Geschmacksrichtung eine perverse: der Appetit des Trinkers ist fast ausschliesslich auf Fleischspeisen gerichtet. Diejenige Nahrung, welche einem gesunden Menschen mit unverdorbenem Geschmackssinne die meiste Freude bereitet, nach welcher das Kind mit gesundem Instinkte verlangend die Arme ausstreckt: zuckerreiche Früchte und überhaupt alle süssen Speisen, sind dem Trinker verleidet. Sobald ein Mann auf die alkoholischen Getränke vollständig verzichtet, erlangt er den Appetit eines Kindes wieder, und der normale Instinkt steht hier im besten Einklange mit den Resultaten der Physiologie, welche festgestellt hat, dass der Zucker die Quelle der Muskelkraft ist. In der Sprache aller Völker der Welt bedeutet das Wort süss zugleich angenehm. Wenn uns das Süsse nicht mehr angenehm ist, so deutet das auf einen abnormen Zustand. In diesem Zustande befindet sich der Trinker. Und als Trinker bezeichne ich jeden, der sich nicht behaglich fühlt, wenn er nicht tagaus, tagein in irgend einer Form, als Bier, als Wein, Alkohol in seine Organe einführt.
   Ich behaupte also, durch die Beseitigung der alkoholischen Getränke würden unsere Tafelfreuden nur erhöht werden: eine weit grössere Mannigfaltigkeit würde sich uns zu Gebote stellen.
   Wer gegen den Alkohol auftritt, gilt gleich für einen Asketen. Deshalb sei es mir gestattet, meine StelIung zu dieser Seite der Frage eingehend zu präzisieren.
   Die Nahrung der meisten Menschen ist viel zu wenig wohlschmeckend. Aus dieser mangelnden Befriedigung unseres Verlangens nach einer wohltuenden Erregung der Geruchs- und Geschmacksnerven - und damit indirekt des gesamten Nervensystems - erklärt es sich, dass wir ein Verlangen haben nach besonderen Genussmitteln. Die Nahrungsmittel sollten zugleich die Genussmittel sein. Würde all' das Geld, das heutzutage für Narkotika verausgabt wird, auf die Verbesserung der Nahrung verwandt werden, würde all' der Scharfsinn und das Raffinement, welche heutzutage auf die Lösung des unlösbaren Problems gerichtet sind, ein Bier herzustellen, von dem man keinen Katzenjammer bekommt, der Aufgabe sich zuwenden, die Nahrung schmackhafter zu machen, so wäre das Verlangen nach narkotischen Genussmitteln gar nicht vorhanden.
   Wir müssen darauf ausgehen, eine möglichst grosse Mannigfaltigkeit und Abwechslung auf unserer Tafel zu erzielen, um durch immer neue Reize Herz und Sinne zu erfreuen. Es ist nicht genug, dass der Mensch das nötige Quantum Eiweiss, Fett und Kohlehydrate in seinen Magen einführt. Die Nahrungsaufnahme soll dem Menschen Freude bereiten jede Mahlzeit ein Fest. Nur dann sind wir wirklich erfrischt und gestärkt zu neuer Leistung und Anstrengung.
   Den Vorwurf der Askese weise ich zurück. Ich behaupte, ein Mensch, der auf die alkoholischen Getränke vollständig verzichtet, entbehrt gar nichts; er gewinnt nur an Lebensglück und Lebensfreuden.

   In unsern bisherigen Betrachtungen haben wir nur die Folgen des sogenannten mässigen Alkoholgenusses im Auge gehabt. Die Folgen der Unmässigkeit zu schildern, kann hier meine Aufgabe nicht sein. Dass durch den Missbrauch des Alkohols das grösste Elend in der Welt entsteht, ist so oft bewiesen worden und so allgemein anerkannt, dass ich mich darauf beschränken möchte, nur ganz kurz an Bekanntes zu erinnern.
   Es ist bekannt, dass durch den Missbrauch alkoholischer Getränke ein ganzes Heer von Krankheiten entsteht, dass kein Organ unseres Körpers vor seiner zerstörenden Wirkung bewahrt bleibt. Fast alle Ärzte sind darin einig, dass viele dieser Krankheiten, insbesondere die vielfachen durch den Alkohol acquirierten Nervenleiden - von der leichtesten Nervosität bis zum ausgesprochenen Wahnsinn - in hohem Grade erblich sind. Wurde doch beispielsweise konstatiert, dass unter 300 blödsinnigen Kindern, deren Eltern in bezug auf ihren Gesundheitszustand und ihre Lebensweise genau untersucht wurden, 145 sich befanden, deren Eltern Gewohnheitstrinker waren.
   Ebenso bekannt ist der Zusammenhang zwischen Trunksucht und Verbrechen. Nach einer an 32'837 Gefangenen in 120 Anstalten aus allen Teilen des deutschen Reiches angestellten statistischen Ermittlung, werden von allen Morden 46 Prozent "im Zustand der Trunkenheit" verübt.* Beim Totschlag beträgt das Verhältnis 63 Prozent, bei der schweren Körperverletzung 74 Prozent, bei der leichten Körperverletzung 63 Prozent, beim Widerstand gegen die Staatsgewalt 76 Prozent, beim Hausfriedensbruch 54 Prozent, bei Delikten gegen die Sittlichkeit 77 Prozent.

   *Gegen diesen Ausdruck Baers ("Der Alkoholismus", Berlin 1878) ist eingewandt worden, man habe vor Gericht nur festgestellt, dass die Verbrechen von notorischen Trinkern verübt, nicht dass sie in der Trunksucht verübt wurden. Aber wir müssen bedenken, dass im Leben des Trinkers beständig zwei Stadien miteinander wechseln: Der Rausch und der Katzenjammer. Im Katzenjammer begeht er die Verbrechen nicht. Der Trinker im Katzenjammer ist absolut energielos und. unentschlossen; er trinkt sich erst einen Rausch an, und dann kommt es zur verbrecherischen Tat. Dass der Kausalzusammenhang zwischen Alkoholmissbrauch und Verbrechen sich nicht immer sicher feststellen lässt, dass der Verwechslung von Ursache und Wirkung ein weiter. Spielraum gelassen bleibt, ist unbedingt zuzugeben. Die Zahlen könnten zu hoch sein. Sie könnten aber auch zu niedrig sein. Wenn tatsächlich der Alkohol beständig zur Betäubung der Langeweile missbraucht wird, somit zum Müssiggang verleitet und "Müssiggang aller Laster Anfang ist", wenn er die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit herabsetzt, den Menschen in schlechte Gesellschaft führt, ihn immer und immer wieder in einen unzurechnungsfähigen Zustand versetzt, jeder Verführung gegenüber haltlos macht und die Stimme des Gewissens erstickt wie sollte er nicht den Menschen von Stufe zu Stufe abwärts und schliesslich zum Verbrechen treiben! Das Ergebnis der psychologischen Deduktion stimmt aufs Beste mit den Überzeugungen überein, zu denen diejenigen gelangen, welche berufsmässig darauf angewiesen sind, den Zusammenhang von Trunksucht und Verbrechen aus der Erfahrung zu studieren.

   Es ist ferner bekannt, dass in den meisten zivilisierten Staaten der Welt 20 bis 40 Prozent der männlichen Wahnsinnigen, nach Urteil der Irrenärzte, ihr furchtbares Schicksal dem Alkohol zu danken haben.
   Es sei schliesslich noch erwähnt, dass auch ein bedeutender Teil aller Ehescheidungen - in Dänemark 25 Prozent und aller Selbstmorde - in England 30 Prozent, in Russland sogar 40 Prozent - die Folge der Trunksucht sind.
   Das ganze Elend tritt vielleicht noch deutlicher vor die Augen, wenn wir statt der prozentischen absolute Zahlen reden lassen.
   "In den Vereinigten Staaten von Nordamerika allein hat - so berichtet der Minister Everett - in den Jahren von 1860-1870 der Konsum von Spirituosen eine direkte Ausgabe von 3 Milliarden und eine indirekte von 600 Millionen Dollar der Nation auferlegt, 300 000 Menschen leben vernichtet, 100 000 Kinder in die Armenhäuser geschickt und wenigstens 150 000 Leute in Gefängnisse und Arbeitshäuser, wenigstens 2000 Selbstmorde, den Verlust von wenigstens 10 Millionen Dollar durch Feuer oder Gewalt verursacht und 20 000 Witwen und eine Million Waisen gemacht."
   Für die meisten Staaten Europas würde eine derartige Zusammenstellung noch weit ungünstigere Zahlen ergeben. Und vergessen wir nicht: es ist nur der allerkleinste Teil des Elends, welcher Aufnahme findet in die Zahlenreihen der Statistik. Vom ersten Glase bis zum Wahnsinn, zum Verbrechen, bis zur Verzweiflung und zum Selbstmorde gibt es tausend Stufen des Elends. Nur wer zur untersten herabsinkt, wird von der Statistik beachtet. Vergessen wir auch nicht, dass jeder dieser Elenden zugleich das Lebensglück anderer vernichtet. Wie viel zerstörtes Familienglück, wie viel Kummer, wie viel Tränen unschuldig Mitleidender, wie viel tiefer, nagender Seelenschmerz, von denen niemals eine Kunde ins statistische Bureau dringt!
   Und nun die wirtschaftliche Seite der Frage. Es wird in Europa in manchen Gegenden 1/4 des geernteten Getreides zu Alkohol verbrannt. Nehmen wir als Durchschnitt auch nur 1/10 an, so heisst das mit andern Worten: 1/10 der ackerbautreibenden Bevölkerung beschäftigt sich mit der Produktion von Alkohol. Die Ackerbauer aber bilden in Europa weit mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Bedenken wir ferner, dass weite Länderstrecken ausschliesslich dem Weinbau dienen, dass der Weinbau ein arger Raubbau ist, dass der Weinberg gedüngt wird mit dem Material, welches andern Feldern unter grossem Arbeitsaufwand entzogen wird; bedenken wir ferner, dass zu den Alkholproduzenten mit hinzuzuzählen ist der entsprechende Teil aller Arbeiter, die mit der Herstellung von Ackergerätschaften, von landwirtschaftlichen Maschinen, mit dem Bau landwirtschaftlicher Gebäude sich beschäftigen, ferner sämtlicher Arbeiter, die mit dem Bau und den inneren Einrichtungen der Brauereien und sämtlicher Arbeiter, die in dem Brauereigewerbe selbst beschäftigt sind; rechnen wir noch hinzu alle die Kaufleute und Zwischenhändler, die es mit der Verteilung des Alkohols zu tun haben und das ganze grosse Heer der Schankwirte, Kellner und Kellnerinnen, so müssen wir bekennen: Ein sehr bedeutender Teil es ist vielleicht der zehnte Teil der ganzen zivilisierten Menschheit arbeitet im Schweisse seines Angesichts jahrein, jahraus, tagaus, tagein mit rastloser Hast, um das Gift zu produzieren und zu verteilen, und alle miteinander konsumieren es, um Arbeitskraft zu vernichten, die Kassen zu leeren, die Armenhäuser, die Krankenhäuser, die Irrenhäuser, die Zuchthäuser zu füllen! Sollte das wirklich die würdigste Beschäftigung sein für die begabtesten Nationen der Welt, für die Erben der Kulturarbeit aller Jahrtausende!?
   Es fragt sich nun: Was soll gegen dieses ganze namenlose Elend geschehen?
Bei der Beantwortung dieser Frage stossen wir sofort auf den Gegensatz, welcher überhaupt den fundamentalsten Gegensatz bildet in der Weltanschauung der Menschen: Die einen glauben an einen sittlichen Fortschritt; die anderen glauben nicht daran: sie glauben nur an einen intellektuellen Fortschritt; sie perhorrescieren deshalb jeden Zwang; durch Zwang wird kein Mensch intelligenter; sittlich besser werden die Menschen überhaupt nicht; die Motive bleiben im Durchschnitt ewig gleich gut und gleich schlecht; also wozu die Gewalt!? Man lasse doch die Menschen ungestört den Kampf ums Dasein kämpfen die Dummen werden untergehen, die Schlauen werden siegen; das ist der einzig mögliche, der einzig denkbare Fortschritt.
   Mit den Anhängern dieser Richtung werde ich nicht streiten. Das würde mich hier viel zu weit führen. Ich stehe zu denen, welche an einen sittlichen Fortschritt der Menschheit felsenfest glauben. Die ganze Weltgeschichte legt dafür Zeugnis ab, und ich wüsste nicht, wozu es denn noch lohnt, zu leben, wenn wir diesen Glauben nicht hätten. Wer aber diesen Glauben teilt, wird auch zugeben, dass ein Volk ebensowenig wie ein Individuum zur Sittlichkeit erzogen wird ohne Zwang. Die Staatsgewalt soll hier eingreifen. Hat der Staat das Recht, Verbrechen zu strafen, sogar mit dem Tode zu strafen so hat er auch das Recht, Verbrechen zu verhüten.
   Wohl weiss ich, dass der ganze liberale Doktrinarismus dagegen sich auflehnt. "Das wäre ja eine Bevormundung!" Aber in bezug auf ein anderes Narkotikum - das Morphium - gibt jeder das Recht der Bevormundung zu. Der Verkauf des Morphium ist in allen Staaten verboten. Hier wird doch tatsächlich der Einzelne durch die Staatsgewalt geschützt gegen die eigene Schwäche. Es ist in hohem Grade charakteristisch, dass jahraus jahrein hunderte von Ärzten der Morphiumsucht verfallen, weil sie die Einzigen sind, die sich das Gift leicht verschaffen können; sie sind die Einzigen, denen die Wohltat der staatlichen Bevormundung nicht zuteil wird. Hier sieht man doch, dass die Intelligenz den Menschen nicht schützt; niemand sieht ja das Verderben so klar vor Augen, als der Arzt; er bedarf der Bevormundung zum Schutz gegen die eigene Schwäche.
   Der Wucher ist gleichfalls gesetzlich verboten. Liegt darin denn nicht auch eine Bevormundung und eine Beschränkung der Freiheit? Und ist denn der Wucherer nicht immer noch tausendmal besser als der Alkoholproduzent und Alkoholhändler? Der erstere raubt seinen Mitmenschen nur ihr Geld, die letzteren ausserdem noch ihre Gesundheit, ihren Verstand, ihre Ehre und ihr Gewissen!
   Das Hazardspiel ist in allen zivilisierten Staaten verboten. Und doch ist die Gefahr, die aus dem Hazardspiel der Gesellschaft erwachsen könnte, verschwindend gering, im Vergleich zu den Folgen der Trunksucht. Wie würden Sie es nun beurteilen, wenn jemand sagen wollte: Mir macht das Hazardspiel Vergnügen; es ist mir die angenehmste Erholung nach meiner Arbeit; es zerstreut mich; es bringt mich auf andere Gedanken. Eine Gefahr ist für mich gar nicht vorhanden; ich beherrsche mich vollständig; ich werde diese Liebhaberei niemals zur Leidenschaft anwachsen lassen. Ich wünsche deshalb, dass an jeder Strassenecke eine Spielhölle eröffnet werde, damit ich einkehren und mein Vergnügen haben kann, so bald und so oft es mir beliebt. Wenn andere so charakterlos sind, sich und ihre Familie ins Elend zu stürzen - was geht das mich an!
   Gestehen wir doch die Wahrheit! Das ist genau der Standpunkt, den die grosse Mehrzahl der Menschen der Alkoholfrage gegenüber einnimmt. Nichts gewährt uns einen so tiefen Einblick in die Engherzigkeit der Menschen, wie eine aufmerksame Beobachtung ihres Verhaltens zur Alkoholfrage. Mit welchem Namen sollen wir es denn bezeichnen, wenn ein Mensch sich sagt: Mögen doch jahraus, jahrein Millionen meiner Mitmenschen in die Krankenhäuser, in die Zuchthäuser wandern, mögen doch Millionen sich und ihre Familien ins Elend stürzen, zur Verzweiflung und zum Selbstmord getrieben werden - wenn ich nur allabendlich mein Bockbier habe - oder - wenn ich nur mit Musse meine Brauerei-Aktien-Dividende verzehren kann!
   Die übliche Ausrede, man gebe ja kein Beispiel der Unmässigkeit, man sei doch immer mässig, weise ich zurück. Der Vorzug der Selbstbeherrschung entbindet niemand von der Pflicht, durch die Macht des Beispiels auf diejenigen zu wirken, welche nur durch völlige Enthaltung zu retten sind.
   Wir dürfen nicht vergessen: Es ist noch niemals ein Trinker gerettet worden durch den Vorsatz der Mässigkeit. In allen Fällen, in welchen dieses gelingt, gelingt es immer nur durch die Überzeugung, dass die einzige Rettung die Vermeidung des ersten Glases ist. Und die Trunksucht eines Volkes kann nicht anders geheilt werden, als die des Individuums.
Wir dürfen zweitens nicht vergessen, wie viel durch das Beispiel erreicht wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass die grosse Mehrzahl der Menschen überhaupt nicht nach Gründen fragt. Sie fragen niemals: warum soll ich das machen? sondern immer nur: "wie macht man es?" Deshalb wird das Beispiel angesehener Personen tausendmal mehr ausrichten, als alle Vernunftgründe und alles Predigen.
   Diejenigen, die sich berufen glauben, ein Volk zu erziehen, sollen mit sich selbst den Anfang machen. Es ist die Pflicht der gebildeten, der besitzenden, der herrschenden Klasse, vor allem durch ihr Beispiel zu wirken. Nur so wird man das Recht erringen, auf gesetzgeberischem Wege gegen die Trunksucht der Massen vorzugehen. So lange man nur dem Armen seinen Branntwein nehmen, selbst aber auf seinen Wein nicht verzichten will, wird niemand an die Uneigennützigkeit der Bestrebungen glauben. Für die Reinheit der Motive gibt es nur einen Prüfstein, nur einen Gradmesser die Opfer, die tatsächlich gebracht werden.
   Kein Mensch, der sich dem Genusse alkoholischer Getränke hingibt - und sei es auch dem allermässigsten Weingenuss - kann sich von dem Vorwurf freisprechen, ein Verführer zu sein. Jeder Trinker war einmal ein mässiger Trinker. Und jeder, der durch sein Beispiel andere zum mässigen Trinken verleitet, verleitet auch einen Teil derselben zur Unmässigkeit. Er bringt die Steine ins Rollen; es liegt gar nicht mehr in seiner Macht, sie aufzuhalten.
   Der Vorwurf der Verführung trifft nicht die Unmässigen. Diese haben im Gegenteil das grosse Verdienst, durch ihr Beispiel abzuschrecken. Die Verführer sind die Mässigen. Und so lange die Verführung nicht aufhört, wird auch die Unmässigkeit mit ihren Folgen: Krankheit, Wahnsinn, Verbrechen nie und nimmer aufhören. Wer das nicht einsieht, kennt nicht die Geschichte des Kampfes wider die Trunksucht.
   Doch genug der Worte. Durch Reden und Vorträge wird der Egoismus nicht überwunden, sondern durch Kampf und Not, "mit Blut und Eisen". Die Franzosen haben gleich nach der Niederlage Gesetze gegen die Trunksucht erlassen. Das waren kleine Anfänge. Die Deutschen im Siegesrausche haben natürlich nicht einmal die Frage sich vorgelegt, was denn faul sei im Staate. Es ist aber nicht bloss der Kampf mit Kanonen und Bajonetten, der das Faule ans Tageslicht bringt. Es tritt auch hervor in dem nicht weniger mörderischen und erbarmungslosen, sogenannten "friedlichen Wettkampf" den die Völker auf wirtschaftlichem Gebiete miteinander kämpfen. Dass in dem Kampf der semitischen Rasse mit den Völkern Europas die Nüchternheit und Enthaltsamkeit der ersteren eine Hauptwaffe bildet, wird allgemein zugestanden. - Die Antisemiten sollten ihre Agitation doch vor allem damit beginnen, das eigene ekelhafte Biersaufen zu lassen. - Es ist ebenso allgemein zugestanden, dass in dem Wettkampfe der europäischen Völker bei der Kolonisation der neuen Weltteile die Enthaltung von den alkoholischen Getränken einen gewaltigen Vorsprung gewährt. Es ist bekannt, dass der Deutsche in Amerika trotz aller germanischen Tugenden hauptsächlich deshalb unter den andern Nationen verschwindet, weil er so unzertrennlich an seinem. Bierkrug hängt. Es wird in dem "friedlichen Wettkampfe" der Völker die Rasse erbarmungslos unter die Füsse getreten werden, die vom Alkohol nicht lassen will.
   Vom Staate allein darf die Hilfe nicht erwartet werden. Der gesetzgebenden Gewalt muss durch private Vereine vorgearbeitet werden. Diese Vereine aber müssen von vornherein das Prinzip der völligen Enthaltung von allen alkoholischen Getränken rückhaltlos vertreten. Die Geschichte des Kampfes wider den Alkohol lehrt, dass die Mässigkeitsvereine aller Art nichts ausgerichtet und durch ihre Halbheit den Fluch der Lächerlichkeit auf sich geladen haben, während die Enthaltsamkeitsvereine die glänzendsten Erfolge aufweisen.
   Wenn man gegen das Alkoholverbot protestiert im Namen der sogenannten individuellen Freiheit, so beweist man damit nur, dass man die Frage noch nicht durchdacht hat. Es handelt sich bei der Forderung der "totalen Prohibition" einfach um das erste und natürlichste Recht eines jeden Menschen. Es handelt sich um das Recht der Notwehr. Wir dürfen doch nie vergessen, dass ein Trinker nicht nur sich selbst schädigt, sondern seine ganze Umgebung gefährdet. Es kommen jährlich Hunderttausende um durch die Trunksucht anderer. Ich erinnere an die Statistik der Verbrechen, der Unfälle. Ich erinnere an die zahllosen durch Trunkenbolde misshandelten Familien. Ich erinnere an die Millionen, die bereits krank und elend geboren werden infolge der Trunksucht anderer, die mit ihrem Elend der ganzen Gesellschaft zur Last fallen, die dieses Elend vererben auf Kinder und Kindeskinder. Es gibt kaum noch einen Menschen, der nicht bereits schwer geschädigt wäre durch die Trunksucht anderer. Wir haben das Recht der Notwehr. Wir sind gar nicht verpflichtet, mit Menschen zusammenzuleben, die beständig mit halbgelähmtem Hirn herumlaufen. Sobald wir nur die Macht haben, dieses zu verhüten - das Recht haben wir schon lange.
   Wir hören es häufig aussprechen, durch solche Gewaltmassregeln werde schliesslich doch nichts erreicht; das Volk greife dann zu anderen, womöglich noch schädlicheren Narkoticis, zu Opium und Morphium. Das ist der deklarierte Bankerott an Argumenten. Das lässt sich gegen jedes Streben zum Besseren einwenden. Das ist genau so, als wenn ein Vater sagen wollte: Es lohnt nicht, meine Söhne erziehen zu wollen. Verbiete ich ihnen eine Ungezogenheit, so ersinnen sie sofort eine neue. Eine gute Regierung soll eben unermüdlich und ununterbrochen im Kampfe liegen mit allen Torheiten und Schwächen der Massen.
   Wir hören ferner häufig behaupten, die Enthaltsamkeitsbestrebungen führten zur Heuchelei. Auch dieser Einwand lässt sich gegen jedes Streben zum Bessern erheben. Sobald angesehene und einflussreiche Männer einer Bewegung sich anschliessen, werden sich immer Personen finden, die aus Heuchelei mitgehen. Sollten wir deshalb jedes Streben nach sittlichem Fortschritt einstellen!? Vorläufig ist die Zahl derer, die aus Heuchelei mittrinken, tausendmal grösser als die Zahl derer, die aus Heuchelei nicht trinken. .
   Wir hören schliesslich immer wieder einwenden: Wenn der Alkohol wirklich so schädlich wäre, so müsste das Menschengeschlecht schon lange daran zugrunde gegangen sein, denn die Trunksucht sei älter als die Geschichte. Hierauf ist zu erwidern, dass es in früherer Zeit unmöglich war, die Alkoholmenge zu produzieren, wie heutzutage, wo die vervollkommnete Landwirtschaft, die fortschreitende Physik und Chemie im Verein mit riesigen Kapitalien in den Dienst der Volksverführung gestellt werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Branntwein erst vor 250 Jahren angefangen hat, sich zu verbreiten. Auch gab es in früheren Zeiten keine Aktien Dampf Brauereien und keine Bierpaläste, welche mit elektrischem Licht und den Klängen des vollen Orchesters die Menge anlocken.
   Alle Einwände, die sonst noch gegen die Beseitigung des Alkohols erhoben werden, sind ebenso tendenziös erfunden und ebenso leicht zu widerlegen. Aber ich weiss ja, hochgeehrte Versammlung, dass, wenn ich alle Einwände widerlegt habe, viele von Ihnen schliesslich doch noch sagen werden
   Das ist alles graue Theorie. Warum sollen wir die herrliche Gabe der Natur nicht verwerten!? Wozu reift denn im Sonnenstrahl die lockende Traube der edle Wein! Alle Dichter haben ihn besungen! Menschen und Göttern hat er das Herz erfreut! Und sollten wir ihn meiden! Warum sollen wir den Verstand nicht lähmen? Wir wollen gar nicht immer nur kalt, verständig und berechnend sein! Wir wollen harmlos sein! Wir wollen zu Zeiten wieder jung werden sorglos und froh wie die Kinder! Was soll aus der Welt denn werden, wenn man nur die kalte Berechnung noch wollte walten lassen?! Führt die kalte Berechnung nicht auch zur Unsittlichkeit, zum Verbrechen? Und sind die aus dieser Quelle stammenden Verbrechen nicht die scheusslichsten von allen?! Wir müssen dem Gemütsleben zu seinem Rechte verhelfen um jeden Preis! Und geht's nicht anders durch den Alkohol! Wir "lieben gute Menschen und stärkende Getränke"!

Hochgeehrte Versammlung!
   Die Wahrheit ist von alle dem genau das Gegenteil. Es ist einfach nicht wahr, dass wir den Alkohol nicht entbehren können, um dem Gemütsleben zu seinem Rechte zu verhelfen. Es gibt doch edlere Freuden! Es gehört wirklich ein gutes Stück Gemütsarmut und Gemütsroheit dazu, die Bacchusfreuden für die höchsten Freuden und das Behagen der Alkoholnarkose für ein hohes Glück zu halten. Gerade der Alkohol hindert ja die Menschen daran, edleren Freuden nachzugehen; er hindert uns, eine edle Freundschaft und Geselligkeit zu pflegen, denen uns anzuschliessen, mit denen wir in gemeinsamen Idealen uns erwärmen könnten. Es ist Tatsache, dass zahllose Menschen jahraus, jahrein allabendlich miteinander verkehren, obgleich sie nichts miteinander gemeinsam haben, als einzig und allein die Vorliebe für dasselbe Bier. Wie sinnlos werden doch oft Gesellschaften zusammengeladen! Ob die Personen, die man zusammenführt, miteinander etwas auszutauschen haben danach wird nicht gefragt. Der Wirt ist ganz unbesorgt: er braucht ja nur die Flaschen auf den Tisch zu stellen, so empfinden alle das grösste Behagen und rühmen am andern Tage die geistige Anregung der Gesellschaft und die Liebenswürdigkeit des Wirtes.
   Hätten wir den Alkohol nicht, so müsste jeder, der eine Gesellschaft geben will, zuvor ernstlich mit sich zu Rate gehen, ob die Personen, die er zu vereinigen wünscht, auch etwas haben, wofür sie in der Unterhaltung sich erwärmen könnten. Es würden viele Gesellschaften ganz unterbleiben. Die Menschen würden sich für einige Zeit in die Einsamkeit zurückziehen, um die eigene Leere auszufüllen, bis dann schliesslich das Verlangen nach einem Austausch dessen, was sie im Innersten bewegt, mit unwiderstehlicher Macht hervorbricht. Dann aber würde es auch zu einer Geselligkeit kommen, welche an geistigem Leben und ungezwungenem Frohsinn alles übertreffen würde, was die Weinlaune jemals hervorzubringen vermochte. Das Verlangen nach Mitteilung und Teilnahme ist tief gegründet in unserer innersten Natur; es lässt sich nicht unterdrücken. Jeder normale Trieb erstarkt in dem Masse, als man ihn zu unterdrücken sucht. Unser Geselligkeitstrieb wird niemals unterdrückt; er wird immer nur gefördert, begünstigt; er wird künstlich genährt und gepflegt durch den Alkohol. Deshalb vegetiert er nur matt dahin, wie eine welke Treibhauspflanze.
   Ganz besonders verhängnisvoll ist es, dass schon die Jugend zum Alkohol greift, um ihre Geselligkeit zu einer erträglichen zu machen. Goethe sagt: "Jugend ist Trunkenheit ohne Wein." Und nun suche man doch diese Jugend beispielsweise unter unseren deutschen Corpsstudenten! Ich behaupte: wenn diese Musensöhne nur den Versuch machen wollten, ihre Art der Geselligkeit durchzuführen ohne Alkohol - sie würden in kürzester Zeit vor langer Weile auseinanderfliegen nach allen Richtungen der Windrose.* Das mit Hilfe des Alkohols künstlich zustande gebrachte Vereinsleben hindert die akademische Jugend daran, in natürlicher Weise sich zu gruppieren - nach gemeinsamen Idealen und Interessen.

*Verfasser ist selbst ein alter Corpsstudent, und das Recht, sich selbst zu verurteilen, kann niemandem bestritten werden. Sollte ich den jüngeren Kommilitonen Unrecht getan haben, so wäre ich ja leicht durch das vorgeschlagene Experiment zu widerlegen. Mit Freuden würde ich dann mein Unrecht eingestehen.

   Es steht aber noch weit schlimmer um die gebildete Jugend unserer Nation. Beginnt denn die Nachäffung des Studentenlebens nicht schon in der Schule? Schon der Schulknabe kennt keine angenehmere Geselligkeit als die beim Biere. Muss denn das nicht zur Unjugendlichkeit, zur Blasiertheit führen? Muss denn nicht jeder Idealismus im Keime erstickt werden?
   Der Alkohol macht den Menschen träge, unlustig zu jeder Anstrengung. So wird ihm schliesslich auch die Freude an der schönen Natur verleidet. Denn die Leichtigkeit im Überwinden körperlicher Anstrengung, die Lust am Marschieren, am Rudern, am Bergsteigen gehört wesentlich mit zum ungetrübten Naturgenuss. Der Alkohol ertötet diese Lust. Nur mühsam schleppt sich der Biertrinker bis zur nächstgelegenen Wirtschaft; dort bleibt er sitzen fest, wie angeklebt. Wohl weiss ich, dass die Wirtshäuser dort hingebaut werden, wo die schönen Aussichtspunkte sind. Aber wie ganz anders schaut sich's doch hinaus in die weite, schöne Gotteswelt auf rüstiger Wanderung, als vom Fenster der Bierstube. Der Alkohol macht den Menschen stumpf und unempfänglich für die edelsten Freuden des Lebens - er führt zur allgemeinen Gemütsverkrüppelung.
   Durch die Ertötung des idealen Sinnes wird der Alkohol zum mächtigsten Hemmschuh beim sittlichen Fortschritt der Menschheit. Die chronische, endemische Narkose und Verfuselung lässt im Volke den Mangel eines sittlichen Ideals gar nicht zum Bewusstsein kommen. Wo irgend die Stimme des Gewissens sich regt, wird sie im Alkohol erstickt. Wo irgend das Verlangen nach edleren Freuden hervortritt, wird es fortgespült durch den ununterbrochenen Bierstrom.
   Dieses Schwinden des idealen Sinnes ist schon äusserlich an den Menschen erkennbar. Die Gesinnung eines Menschen prägt sich in seinem Antlitz aus. Und nun sehe man sie doch an die Trinker alle, wie mehr und mehr die edleren Gesichtszüge schwinden und einem brutalen Ausdrucke Platz machen. Die Hälfte aller Männer ist durch den sogenannten mässigen Alkoholgenuss entstellt.

Fassen wir alles zusammen, so müssen wir bekennen:
   Einer allmähligen und vollständigen Beseitigung aller alkoholischen Getränke steht nichts anderes im Wege als einzig und allein der brutale Egoismus. Dieser Egoismus aber wird das Feld nicht behaupten. Es siegt schliesslich immer die Selbstlosigkeit; es siegen diejenigen, welche die grössten Opfer zu bringen entschlossen sind. Das lehrt die ganze Weltgeschichte. Das sei der Trost, der uns aufrecht erhält bei allem Misslingen im Leben. Das sei die Quelle der Kraft, auszuharren im Kampfe. Der Sieg ist u
nser.

Anhang

Ein Wort an die Arbeiter

Um die immer wiederkehrende Behauptung zu widerlegen, dass der Akoholmissbrauch eine Folge der Armut sei, wurde der folgende Artikel in Nr. 41 vom 21. Oktober 1890 der "Schlesischen Nachrichten" veröffentlicht:
   Der Schreiber des Artikels über die Alkoholfrage in Nr. 39 dieses Blattes kommt, wie die meisten seiner Vorgänger, zu dem Schlusse, "der Schnapsgenuss sei eine Folge des Elends" und könne "erst nach Beseitigung der heute herrschenden sozialen Einrichtungen vollständig beseitigt werden."
   Hierauf ist zu erwidern: Zur Entscheidung der Frage, ob es für den armen Arbeiter vorteilhafter ist, wenn er gleich aufhört, alkoholische Getränke zu geniessen, oder ob er erst abwarten soll, bis "die heute herrschenden sozialen Einrichtungen beseitigt werden" zur Entscheidung dieser Frage ist niemand mehr berufen, als diejenigen unter den Arbeitern selbst, welche den Versuch gemacht haben. Solcher armen Arbeiter gibt es Millionen.
   Der grösste Teil aller dieser Enthaltsamen gehört der ärmsten Volksklasse an. Und nun frage man doch diese Leute, ob sie etwas geopfert haben, ob sie etwas entbehren. Einstimmig werden sie antworten: Wir entbehren nichts! Wir haben nur gewonnen an Arbeitskraft, an Lebensmut, an Glück und Freuden! Wäre dieses nicht der Fall, so würde das Beispiel der Enthaltsamkeit nicht zur Nachahmung führen. Tatsächlich aber wächst die Zahl der Enthaltsamen ununterbrochen an allen Orten, wo Enthaltsamkeitsvereine gegründet wurden.
   Die Ursache der Trinkgewohnheit ist also nicht das Elend. Die Hauptursache ist die Nachahmungssucht der Menschen. Das erste Glas Bier schmeckt uns ebensowenig wie die erste Cigarre. Die Menschen trinken, weil andere trinken. Hat man sich aber einmal an das Trinken gewöhnt, so ist an Gründen zum Weitertrinken natürlich niemals Mangel. Die Menschen trinken, wenn sie sich wiedersehen; sie trinken, wenn sie Abschied nehmen. Sie trinken, wenn sie hungrig sind, um den Hunger zu betäuben; sie trinken, wenn sie satt sind, um den Appetit anzuregen. Sie trinken, wenn's kalt ist, zur Erwärmung; sie trinken, wenn's warm ist, zur Abkühlung. Sie trinken, wenn sie schläfrig sind, um sich wach zu halten; sie trinken, wenn sie schlaflos sind, um einzuschlafen. Sie trinken, weil sie traurig sind; sie trinken, weil sie lustig sind. Sie trinken, weil einer getauft wird; sie trinken, weil einer beerdigt wird; sie trinken, sie trinken. Warum sollten sie nicht auch trinken, um Kummer, Not und Elend zu vergessen!?
   Von allen Gründen aber, die zum Trinken veranlassen, ist dieser letzte der törichtste. Man will die Wirkung bekämpfen und steigert die Ursache. Man will die Armut überwinden und gewöhnt sich an Ausgaben, durch welche die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit gehemmt wird. Man will Kummer und Sorgen bekämpfen, und statt zum wahren Freunde zu gehen, der einen mit Rat und Tat unterstützt, geht man zu den falschen Freunden in der Kneipe, die einem sagen: Du bist nicht schuld, sondern "die heute herrschenden sozialen Einrichtungen", und die dem Trostsuchenden einen Fusstritt geben, sobald er seine Wirtshausrechnung nicht mehr bezahlen kann.
   Wie die Nachahmungssucht die Hauptursache der Trunksucht ist, so ist das beste Gegenmittel das Beispiel der Enthaltsamkeit. Auf gesetzgeberischem Wege ist noch niemals etwas Wesentliches erreicht worden, wenn nicht die Bildung von Enthaltsamkeitsvereinen vorausgegangen war. Eine Volksvertretung, welche sich aus Brauern, Brennern, Alkoholhändlern und Trinkern zusammensetzt, wird niemals wirksame Gesetze gegen den Alkoholkonsum erlassen.
   Zum Schlusse möchte ich die geehrten Leser bitten, die folgenden zwei Punkte ernstlich zu erwägen:
1. Alle Armut und alles Elend, welche durch Übervölkerung, durch ungerechte Verteilung des Erarbeiteten, durch Lohnstockung, Arbeitslosigkeit usw. hervorgerufen werden, reichen nicht entfernt heran an das Elend, das in einer Trinkerfamilie herrscht.
2. Die Bekämpfung keines andern Elends duldet so wenig Aufschub, wie die Bekämpfung des Trinkerelends, weil es sich hier um erbliche Leiden handelt. Das Elend, das der Alkohol anrichtet, ist nicht nachträglich wieder gut zu machen.
   Damit ist nicht gesagt, dass wir nicht auch alle übrigen Ursachen der Armut und des Elends zu erforschen und mit allen Kräften zu bekämpfen bestrebt sein sollen. Der Kampf wider den Alkohol wird uns in diesem Streben nicht hemmen, sondern nur fördern. Wir wollen das eine tun und das andere nicht lassen.
G. Bunge, Professor in Basel.


Vorwort
zur Ausgabe von 1941

Der vorliegende Vortrag wurde am 23. November 1886 in der Aula der Universität Basel gehalten. Er hat viele Auflagen erlebt und ist in 16 Sprachen übersetzt worden. Entsprechend den neueren Fortschritten der Enthaltsamkeitsbewegung sind noch vom Verfasser selbst in die neueren Auflagen einige Zusätze aufgenommen worden.
   Gustav von Bunge wurde am 19. Januar 1844 als Sohn von Alexander von Bunge, Professor der Botanik an der Universität Dorpat, geboren. Im Jahre 1874 wurde er Professor an der Universität seiner Vaterstadt und 1885 Professor der Physiologie an der Universität Basel.
Von Bunge als Hochschullehrer, schrieb sein Schüler, der heute ebenfalls berühmte Schweizer Gelehrte, Prof. Dr. E. Abderhalden in Halle a. S., anlässlich des 70. Geburtstages von Bunge, im Jahre 1914:
    "Wenigen Lehrern ist es vergönnt, nachhaltig zu wirken. Bunge wird von keinem seiner Zuhörer je vergessen werden. Ungezählte Anregungen sind von seinen Vorträgen ausgegangen. Nach Form und Inhalt gleich vollendet, bieten seine Vorlesungen noch dadurch einen besonderen Reiz, dass sie niemals auch nur einen Hauch einer Wirkung suchen. Sie liegt vielmehr im Vorgetragenen selbst. Einfach und schlicht, wie Bunge selbst, ist sein Vortrag. Eine Persönlichkeit steht hinter jedem Wort."
    Professor Bunge hat neben zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen auch das meisterhafte Lehrbuch "Physiologie des Menschen" geschrieben, dessen erste Auflage im Jahre 1900 erschien. Bunge war kein Kathedergelehrter, sondern ein Mann mit warmem Herzen und sozialem Verständnis. Als solcher ist er zum ersten Vorkämpfer der wissenschaftlich begründeten Alkoholbekämpfung in Mitteleuropa geworden. Der angesehene Universitätsprofessor scheute sich nicht, in den Abstinenzvereinen, die er gründen half, die bescheidensten Aufträge auszuführen.
   Gustav von Bunge starb am 5. November 1920 in Basel.

Carl Spitteler zur "Alkoholfrage" von Gustav von Bunge

"Herr Prof. Bunge hat letzten Dienstagabend in der Aula über die Alkoholfrage im weitesten kulturhistorischen Sinne dieses Wortes einen sehr anregenden Vortrag gehalten. Ich erinnere mich nicht, jemals eine schärfere, wirkungsvollere Philippika gegen den Alkohol gehört zu haben. Die wissenschaftliche Überlegenheit des Physiologen, seine nüchterne, scharfe Dialektik im Bunde mit der Wärme der Überzeugung, alles wirkte zusammen um die gebildeten Zuhörer ganz anders zu gewinnen, als dies eine gewöhnliche Temperenzlerrede je vermocht hätte. Beim Verlassen des Saales zeigten viele meiner Bekannten Spuren mehr oder minder tiefgehender Zerknirschung. Auf einer Proselytenliste, welche in diesem Augenblicke wäre herumgeboten worden, hätten Duzende unterzeichnet. Ich selber musste, zu Hause angelangt, ein Glas guten, sehr guten Weines trinken, um mich zu überzeugen, wie stark und unangenehm die sündhaften Bande noch sind, die mich an den von Herrn Bunge so unglimpflich behandelten alten Bacchus gefesselt hatte.
Jawohl, Bacchus! Denn Herr Bunge beschränkte sich nicht etwa darauf, die bekannten Folgen der Schnapssäuferei zu schildern, er machte auch dem Bier den, wie mir scheint, wohlverdienten Prozess, und selbst über den erlauchten, vielbesungenen Rebensaft und den mässigsten Genuss desselben wagte er den Stab zu brechen... Es liesse sich, so scheint mir, gegen die Behauptungen des Herrn Professor Bunge manches einwenden. Doch wozu die Wirkung einer Predigt abschwächen wollen, welche nirgends so sehr am Platze ist, als gerade in einem Lande, das im privaten wie im öffentlichen Leben dem Trunke und der Kneipe eine, mindestens gesagt, viel zu grosse Bedeutung eingeräumt hat? Nehme jeder von dem Gelehrten, so viel er kann und mag. Ich für meinen Teil bekenne bescheiden, dass bei voller Anerkennung der Tendenz des Herrn Bunge, die Berechtigung seiner radikalsten Postulate nicht eher vorurteilsfrei beurteilen zu können, als bis ich einmal die Wirkung fortgesetzter Enthaltsamkeit von jedem geistigen Getränke an mit selbst erprobt habe. Ein jeder, der sich für diese Frage interessiert, sollte sich gelegentlich dieser Prüfung unterziehen. Denn überzeugender als die Durchschnittserfahrungen an englischen Soldaten wirkt schliesslich - für den Betreffenden - die Erfahrung am eigenen Leib."
(Carl Spitteler am 26. November 1868 in der "Grenzpost")
(Spitteler war auch Lyriker, Erzähler und Essayist. 1919 erhielt er - als bisher einziger Schweizer - den Nobelpreis für Literatur.)
(Ein Bummel durch das Internet ausgehend von Spitteler und Bunge)


Mehr zu Gustav von Bunge

Fragen zur "Alkoholfrage"

Der andere Pionier der Antialkohol- und Abstinenzbewegung:
August Forel: Arzt, Naturforscher, Sozialreformer, 1848 - 1931


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Beiträge zur Alkohol-Geschichte der Schweiz (Einleitung, Index)
Volksabstimmungen zur Alkoholpolitik: Sechs alkoholpolitische Kraftakte
Geschichte des Beirates von SAS - SFA/ISPA 1913-1982
Direktoren von Zentralstelle und Fachstelle von 1901 bis 2003  
Schweizerischer Rat für Alkoholprobleme
1995: Wirt ist ein ganz spezieller Beruf

1987: Alkoholpolitik zwischen Wirtschaft und Gesundheit
Gedenkrede zu Ehren von Prof. Dr. G. von Bunge
Hier:

Prof. Dr. Gustav von Bunge: Die Alkoholfrage

Weiter:
1885: Auszug zu "Abstinenz" aus dem Vortrag "Der Vegetarianismus" von G. v. Bunge
Die Alkoholartikel der Bundesverfassung von 1885
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung Ende 1999
Die Alkoholartikel in der Bundesverfassung 2000
Prohibition – kein aktuelles Thema  
Ausserdem:
Chroniken zur schweizerischen Alkoholpolitik
Heim:

Hier ist die Familie Muster in Ecublens

Hier finden Sie das Kapitel Alkoholpolitik mit Links und Hinweisen zu anderen Seiten.
http://www.edimuster.ch/: Hier ist die Familie Muster in Ecublens VD - Eduard Muster: emuster@hotmail.com 17/11/04