Die Grundlagen der Abstinenzbewegung
Josef Odermatt, 1968
Unter Abstinenz wird nachstehend
die grundsätzliche Enthaltung von alkoholischen Getränken als
Genussmittel verstanden. Die moderne Abstinenzbewegung erblickt darin
ein wirksames Mittel zur Bekämpfung der gesellschaftlichen Alkoholsitten
und eine goldene Regel zur Bewahrung des Individuums vor den Alkoholgefahren.
Es handelt sich also nicht um ein Reinheitsgebot, wie zahlreiche alte
Religionen solche gekannt haben. So galt dem jüdischen Volk das Schwein
als unrein und deshalb dessen Genuss als ein Greuel.
Im Gegensatz dazu kann der Abstinent ruhig gelten lassen, dass strikt
mässiger Alkoholgenuss für einen gesunden, nicht-alkoholintoleranten
erwachsenen Menschen vom Standpunkt der Individualhygiene aus keinerlei
Schädigung bedingt.
Während die Individualhygiene einzig das Wohl des Individuums als
einzelner geschlossener Persönlichkeit verfolgt, befasst sich die
Sozialhygiene mit der Verhütung von Schäden, die sich aus dem
Zusammenleben. den gesellschaftlichen Einrichtungen und Gebräuchen
ergeben.
Abstinenz als Postulat der
Individualhygiene
Die Regel, dass strikt mässiger Alkoholgenuss keine gesundheitlichen
Nachteile bedinge, gilt nicht für alle Individuen. Sie gilt selbstverständlich
nicht für den noch im Entwicklungsstadium befindlichen kindlichen
und jugendlichen Organismus. Sie gilt auch nicht für von Natur aus
alkoholintolerante Menschen (es gibt solche). Viel zahlreicher sind jene,
die an einer erworbenen AlkoholintoIeranz leiden, zum Beispiel infolge
einer Gehirnverletzung (das Gehirn ist das bei Verkehrsunfällen am
häufigsten betroffene Organ). Bei Epileptikern löst Alkohol
Anfälle aus und macht eine Heilung fast unmöglich. Ähnliches
trifft zu bei verschiedenen psychisch kranken Menschen. die man zum Teil
nur darum nicht in der Freiheit belassen kann. weil es dabei zu Alkoholgenuss
und damit zu Anfällen kommen könnte. Der deutsche Weinfreund
Arzt Prof. H. Kliewe von der Universität Mainz rät vom Alkohol
ab auch bei peripheren Nervenschmerzen, bei Gewebeschädigungen der
Leber und der Niere, bei Schilddrüsenüberfunktion usw. Da die
Erhaltung der Gesundheit eine Menschenpflicht ist. wird für diese
Fälle die Abstinenz zu einem Postulat der Individualhygiene.
Dies trifft in ganz besonderer Weise auch zu für Alko holsüchtige
wie auch für solche, die sich wegen Alkoholismus behandeln lassen
oder die früher alkoholsüchtig waren. Die Zahl dieser Menschen
ist in der Schweiz sehr hoch in Übereinstimmung mit unserem hohen
Alkoholkonsum. «Der grössere Teil der Alkoholiker wurde von
ihrem Schicksal nicht durch ungünstige Vorbestimmung erfasst, sondern
durch sukzessiv stärkeres Gewohnheitstrinken in einer Umgebung, die
dem Alkohol gegenüber tolerant ist.» (Prof. Dr. med. K. Bättig)
Abstinenz als Postulat der
Sozialhygiene
Der gewohnten traditionellen
Moral. die fast ausschliesslich individualistisch gewesen sei, stellt
der Theologe Jacques Leclercq die heutige gegenüber, die eine soziale
Moral sein müsse. In der «Praxis» schrieb kürzlich
Prof. Dr. med. H. Schaefer in bezug auf die gesellschaftlichen Normen
betreffend Ernährung, Genussmittel usw.: «Solche Normen sind
Zwänge von beträchtlicher Kraft.» Sie sind es nirgends
in stärkerem Mass als bei den Trinksitten. Es gibt heute in der Schweiz
ein paar Hunderttausende von Menschen, die aus Gründen der Individualhygiene
nicht Alkohol geniessen sollten' Es gibt eine immer grössere Zahl
von solchen. die auf Grund von Dienstreglementen und auf Grund verantwortungsvoller
Tätigkeiten unmittelbar vor sowie während dieser Tätigkeiten
auf den Alkoholgenuss verzichten sollten. Als Beispiel sei die Regel 18
des «Handbuchs der Verkehrsregeln» genannt: «Am besten
ist es, den Alkohol vor und während des Fahrens ganz zu meiden.»
Die Bräuche und Sitten der Gemeinschaft spielen für die erdrückende
Mehrheit der Menschen die Rolle von Lebensregeln, die spontan befolgt
werden. Die meisten Menschen fragen nicht: «Warum soll ich dies
oder jenes tun?», sondern sie fragen: «Wie machen es die andern?»
Dazu kommt, dass die Alkoholsitten durch eine finanzkräftige raffinierte
Publizität in gezielter Weise unterbaut, erhalten, forciert werden.
Da braucht es einfach Menschen, die die Alkoholsitten nicht mitmachen
ohne Aufheben, ohne Anklagen. ohne Schimpfen, einfach durch ihre stete,
grundsätzliche Ablehnung alkoholischer Getränke. Ihr Verhalten
regt zum Nachdenken an, bricht den Zwang und ermöglicht jenen, die
für sich allein nicht die Kraft der Enthaltung vom Mittrinken aufbrächten,
sich anzuschliessen.
Sitten bricht man nicht dadurch, dass man sie mitmacht, auch wenn in mässiger
Weise, sondern dadurch, dass man sie nicht mehr mitmacht.
(J. Odermatt, Blauer Taschenkalender 1968)
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