Prof. Dr. Carl Hilty

Mässigkeit oder Abstinenz?

"Reden ist nicht immer klug
Gutes Beispiel sagt genug."


Nachdem das schweizerische Volk mit einer so erheblichen Majorität sich, wir dürfen wohl annehmen nicht bloss gegen den Absynth, sondern gegen den Alkoholismus überhaupt ausgesprochen hat 1, ist nun die Frage neuerdings an die Tagesordnung gelangt, in welcher Weise der Kampf gegen denselben fortzusetzen sei, und wie glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, dass Viele eine Art von Anregung, oder Anleitung dazu erwarten.
1) Nach einer eidgenössischen Initiative, die mit 167'814 gültigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei ein gereicht wurde, fand die Beratung in den eidg. Räthen über das Absinthverbote im April des Jahrs 1908 statt. Die Eidg. Räthe, National- und Ständerath, stimmten der Initiative zu, und diese wurde am 5. Juli 1908 mit 241'078 gegen 138' 669 Volksstimmen und von allen Kantonen ausser Neuenburg und Genf (die bei der Absynthfabrikation besonders interssiert sind) angenommen. Man darf dies als eine Demonstration des Schweizervolkes gegen den Alkoholismus überhaupt ansehen. Vergl. hierzu Hilty, Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft, XXII. Jahrg. (1908), S. 437 ff.
(Mehr zu Absinth auf unserer Seite)

Dass der Kampf selber ein unumgänglicher sei, ist theoretisch klar und durch zahlreiche Erfahrungen in unserem und andern Ländern bereits unbestreitbar geworden; sogar die Gegnerschaft in den Verhandlungen, welche über den Absynth geführt wurden, gab im Ganzen zu, dass irgend etwas zu geschehen habe.

Man kann aber, wie die Geschichte seit 1885 2 - für uns nicht unerwartet - bewiesen hat, theoretisch gegen den Alkoholismus sein und denselben dennoch durch den Mangel an richtiger Ausführung dieses Gedankens und, was noch wichtiger ist, durch eigenes Beispiel, eher fördern, als bekämpfen, und gerade der letzt verflossene Akt dieses ganzen Feldzuges hat es auf das Einleuchtendste bewiesen, dass es auch in solchen moralischen Kriegen eine Art von Strategie gibt, welche nicht ungestraft vernachlässigt werden darf. Wie im wirklichen Krieg muss man sich wenigstens im Generalstab über die Ziele desselben und die zu verwendenden Mittel, sowie über die Etappen des Vorangehens vollständig klar sein, und ebenso bildet die Verfolgung des für einmal geschlagenen Gegners eine wesentliche Aufgabe, wenn man nicht riskiren will, ihn nach einer Ruhepause neuerdings kampfbereit vor sich zu sehen.
2)Die Alkoholartikel der Bundesverfassung von 1885 (Webmaster)

Dieser Fall würde jetzt muthmasslich bei uns eintreten, wenn man der Sache ganz einfach ihren Lauf liesse, oder glaubte, sich mit den "Belehrungen" über die Schädlichkeit des Alkohols begnügen zu können, wie sie bei Anlass der Absynth Initiative in Aussicht gestellt worden sind.

Was jetzt nöthig ist, ist erstens: Die Frage selbst in ihrem Wesen und ihren Möglichkeiten neuerdings und etwas klarer zu erfassen; dann ein bestimmtes Ziel, das zunächst erreicht werden soll und kann, in Aussicht zu nehmen, und endlich dasselbe in einer einheitlichen Aktion zu verfolgen.

Dass das Gute in der Welt schliesslich den Sieg davonträgt auf allen Gebieten, wo immer der Kampf gegen Egoismus, Genusssucht, oder Gleichgültigkeit obwaltet, dessen dürfen wir zwar schon gewiss sein, aber ebensosehr auch dessen, dass ein gewisser Beisatz von Klugheit in der Ausführung (oder bereits in der Auffassung) der guten Sache niemals schaden kann, wenn man den Sieg in annähernd absehbarer Zeit erreichen will. "Die Kinder der Welt sind eben klüger als die Kinder des Lichts"; sonst wäre die Welt längst eine andere geworden und bedürfte es auch in dieser Sache keiner Anstrengungen mehr.

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Darüber ist eigentlich jetzt fast Jedermann einig, dass der Alkoholgenuss entweder direkt schädlich, oder doch wenigstens nicht von erheblichem Nutzen sei; dass er ferner jährlich eine ungeheure Summe Geldes, wir nehmen an in unserem kleinen Lande gegen 370 Millionen erfordert 3, mit welchen sehr viel Besseres ausgerichtet werden könnte; und dass er endlich die Ursache einer Unsumme von Elend und Verbrechen in der Welt bildet, welcher man mit keinen Deklamationen, ja auch nicht einmal mit Belehrungen der aller besten Art, sondern nur noch mit direkter Beseitigung der Ursache völlig wirksam begegnen kann.
3)Nach einer Berechnung in dem "Lehrbuch des schweizerischen Vereins abstinenter Lehrer" in den Jahren 1900-1904 täglich eine Million, während in der gleichen Periode bloss 240 Millionen für Brod und 180 Millionen für Wohnung ausgegeben wurden. 20 bis 60 Prozent des Arbeitslohnes der Arbeiter gehen im Bier verloren, das die Brauereien nun sogar oft auf die Arbeitsplätze nachführen und durch den Patentverschluss der Flaschen zugänglicher gemacht haben. Dabei enthält nach einer bezüglichen Untersuchung ein Glas des gehaltvollsten Exportbieres nicht mehr Nährwert als ein Esslöffel voll Käse. Vergl. darüber Reinhard, Dr. med., "Im Kampf gegen den Alkohol" 1905.

Wir wiederholen es, das sind Dinge, die jetzt eigentlich Jedermann glaubt und wenn er es nicht sagt, oder nicht dem entsprechend handelt, so geschieht es nicht aus Unkenntnis dieser Verhältnisse, sondern entweder aus einem entgegengesetzten Interesse an der Alkoholproduktion und Verbreitung, oder aus einer gewissen Gewohnheit oder Gleichgültigkeit, welche glaubt für die eigene Person und Familie mit dem Uebel leidlich auskommen zu können, wenn es auch Tausende von weniger gut Situirten verschlingt.
Was wir jetzt brauchen ist nicht "mehr Belehrung" über die Nachtheile des Alkoholgenusses; diese kennen wir längst und sehen sie täglich vor Augen (die Alkoholiker selbst sogar bestreiten sie nicht), sondern eine deutlichere Vorstellung von der Interessen-Gegnerschaft, die uns gegenübersteht und vor allem eine Auseinandersetzung mit der Frage der Mässigkeit, deren sich die Interessenten zur Erreichung ihrer Zwecke mit Geschicklichkeit bedienen.

I.

Mit den direkten Interessenten zu diskutiren nützt nichts; sie werden sich solange als möglich für ihr "flüssiges Brot", mag es nun der Absynth oder etwas Anderes sein, wehren und diese Existenzfrage mit allerlei schönen Redensarten von Freiheit der Gewerbe, Schutz der Privatrechte etc. zu bemänteln suchen, wie es s. Z. auch die Sklavenhalter in Amerika gethan haben und noch manche Andere, welche jeweilen aus gemeinschädlichen Gewerben oder Einrichtungen ihren Lebensunterhalt bezogen. Jeder moderne Staat, auch unsere Eidgenossenschaft, steht auf den Trümmern solcher beseitigten Einrichtungen, die grösstentheils nicht einmal entschädigt worden sine Wir wollen daher diesen Interessenten des Alkoholverbrauchs den Uebergang so leicht als möglich zu machen suchen, dagegen an dem Rechte de: Maats festhalten, gemeinschädliche Gewerbe zu verbieten oder zu beschränken; namentlich solche, die er nicht einmal konzessionirt hat, sondern die sich ihr "Recht" selber angeeignet haben, weil bisher kein Verbot im öffentlichen Interesse entgegenstand. Auch glauben wir, es sei besser, solche thatsächliche Veränderungen nicht mit einem Schlage und uniform für die ganze Eidgenossenschaft eintreten zu lassen, sondern allmählig, je nach Einsicht und Ueberzeugung der Kantone und Gemeinden unseres Landes, und nach den speziellen Verhältnissen und Nothwendigkeiten. Wir haben daher schon längst das System in Vorschlag gebracht, das man in andern Ländern bereits kennt und dort "local option" nennt, worüber der Bundesrath auch bereits im Jahre 1899 den Auftrag, zu referiren, erhalten und angenommen hat. Dieser Vorschlag, welcher in unserem Jahrbuche näher beleuchtet ist, lautete wie folgt:

Alkohol Postulat vom 12. Dez. 1899.
"Der Bundesrath wird ersucht in Erwägung zu ziehen, ob nicht eine Revision des Art. 31 der Bundesverfassung in dem Sinne vorzugsweise anzubahnen sei, dass es jedem Kanton und jeder Gemeinde gestattet sei, für seinen, resp. ihren, Bezirk Massregeln gegen den Alkoholismus eintreten zu lassen, ohne durch den Grundsatz der Gewerbefreiheit daran gehindert zu sein."
(Jahrbuch 1900, S. 75-125)

Das Postulat wurde im Nationalrath angenommen in dem Sinne einer Beschränkung auf die Kantone. Das halten wir für ungenügend, wenn der Zweck wirklich erreicht werden soll.
(Mehr zum Postulat auf unserer Seite. Webmaster.)

Wir glauben sicher, wir werden damit in absehbarer Zeit zu dem Resultate gelangen, dass einzelne Gemeinden, oder vielleicht Kantone unseres Landes je nach ihren speziellen Verhältnissen, und ohne Zwang, wie er in jeder einheitlichen Einrichtung liegen müsste, den Alkoholverbrauch beschränken könnten. Und die Erfahrungen, welche sie damit machen, sowie das gute Beispiel, welches sie vor Aller Augen darbieten würden, würde muthmasslich mehr Wirkung haben, als alle weiteren "Belehrungen".

Das ist also der einfachste und thunlichste Weg, mit dem sich sogar die Alkohol-Interessenten am ehesten zufrieden stellen könnten; nach unserer Wicht sogar der einzige, mit dem man wirklich in dieser Sache vorwärts kommen wird, während eine wirksame allgemeine Massregel für die ganze Eidgenossenschaft zu finden ein Problem ist, an dem sich noch mehrere weitere Generationen ohne hinreichenden Erfolg abmühen werden. Die Hilfe liegt ganz in der Möglichkeit lokaler und lokal verschiedener Aktion.

II.

Zahlreicher als die direkten Interessirten sind unter unsern bisherigen Gegnern die Gleichgültigen, d. ho diejenigen Leute, die einen gewissen, wie sie es nennen "mässigen", Alkoholgenuss doch nicht ganz entbehren möchten und daher jeder schärferen und allgemein geltenden Massregel einen stillen, aber sehr wirksamen Widerstand entgegensetzen. Das Volk über die Schädlichkeit des Alkohols zu belehre a dazu sind sie zwar stets gerne erbötig; sich selbst aber zum Volke zu zählen und einer Annehmlichkeit des Lebens um des Volkswohls willen zu entsagen, in der Regel weniger.

Auch sie könnten sich auf diesem Standpunkte mit der Localoption eher zufrieden geben, als mit einer allgemeinen Massregel; im Uebrigen aber stellen wir ihnen, mit denen wir heute besonders reden wollen und von denen das Schicksal des weiteren Kampfes gegen den Alkohol abhängt, folgendes zur Ueberlegung anheim:

1. Die "Belehrung des Volkes" über die Schädlichkeit des Alkohols hilft nichts ohne das Beispiel von Oben, dem das Volk stets folgt. Solange die oberen Klassen einer Gesellschaft bei ihrer hinreichenden Ernährung und einem bequemeren Leben den Reiz des Alkohols nicht entbehren zu können glauben, werden sie niemals den "gemeinen Mann" überreden, dass dies für ihn bei seinem grösseren Bedürfen einer Anregung 4) nützlich, oder sogar nothwendig sei. Glauben wir doch nicht mehr an die Wirkungen der Moralpredigten ohne gleichzeitiges Beispiel! Solange das Volk namentlich seinen Arzt, seinen Geistlichen und seinen Lehrer Alkohol in irgend einer Form (oft genug sogar in allen Formen) trinken sieht, wird es sich nicht von der Schädlichkeit dieser Getränke überzeugen lassen. Ebenso gut als mit blossen Lehren und Predigten den Alkohol eindämmen, hätte man mit solchen die Wildbäche des Landes verbauen können. Zu Beidem gehört auch Handeln, Opferbringen, nicht bloss Ueberzeugung, oder Belehrung.
4) Das war der kleine wahre Kern in der grossen demagogischen Lüge vom "Gläschen des armen Mannes".

2. Es ist, in den meisten Fällen wenigstens, gar nicht eine Ueberzeugung, welche die "Mässigen" abhält zu den Abstinenten zu gehören, sondern, unumwunden gesagt, die Genusssucht der gebildeten Klasse. hervorgereift aus den materialistischen Grundanschauungen der bisherigen Zeit, die sie auch hinderten, an noch andern Kämpfen aktiv theilzunehmen. Warum sollen sie sich plagen, oder einem, wenn auch nicht bedeutenden Lebensgenusse oder Lebensreize entsagen, welcher ihnen und den Ihrigen wenig schadet, wenn auch freilich vielleicht den Uebrigen des gesammten Volkes weit mehr?

"Soll ich meines Bruders Hüter sein?"

Uns scheint, wenigstens drei Stände eines jeden Volkes wären hiezu in der That verpflichtet, sofern sie nämlich die Ueberzeugung von der Schädlichkeit des dermaligen Alkoholunwesens gewonnen haben, was wir stets voraussetzen. Es sind dies die Geistlichen, die Aerzte und die Lehrer. Solange diese nicht abstinent sind, wird das Volk, wie schon gesagt, ihr Beispiel als auch für sich wegleitend ansehen. Wenn sie aber einmal grösstentheils Abstinenten werden, was wir als möglich betrachten, dann ist diese grosse Sache bereits halb gewonnen, und man braucht sich gar keine grosse Mühe mit weiterer Belehrung zu geben; das Beispiel dieser drei Stände wirkt von selbst und besser.

3. Wir sind überhaupt unsererseits hinreichend überzeugt, dass niemals und mit keinen Massregeln der Gesetzgebung unser ganzes Volk abstinent zu machen sein wird. Es wird wahrscheinlich immer noch Alkohol getrunken werden in unserem Lande bis zum "jüngsten Tage Nachmittags". Aber es ist möglich, durch die Abstinenz des einflussreichsten Theils eines Volkes alle Uebrigen weit mässiger zu machen.

Aber auch nur auf diese Weise ist es möglich. Auch die bereits jetzt sichtbaren Fortschritte in der Mässigkeit sind den Abstinenten zuzuschreiben; ohne sie wäre diese Bewegung überhaupt nie in den Fluss gekommen. Von Mässigen hat unser Volk dabei nicht gerade viel zu verdanken gehabt; sie haben der Bewegung weit eher Hindernisse bereitet, weil sie ihnen vielfach noch zu "asketisch" vorkam, oder gegen allzu viele und berechtigte Interessen zu verstossen schien, deren wirksamste Alliirte sie bisher gewesen sind.
Wir wollen mit ihnen hier darüber nicht weiter rechten, sondern bloss noch über den sogenannten Asketismus Folgendes sagen, was wenigstens die obengenannten drei Stände verstehen müssen:

Das Erdendasein hat unserer Ansicht nach den Zweck einer Ueberwindung des rein körperlichen, thierähnlichen Wesens durch den Geist und höheren Willen, behufs Erstellung einer geistigen Persönlichkeit, welche dann zu einer Fortdauer berufen ist, nachdem der Körper zu existiren aufgehört hat. Von diesem Gesichtspunkte gehen wir aus.
Alles, was dazu dient, ist gut und recht; das Gegentheil, als unserem Lebenszwecke entgegenstehend, falsch. Der Alkohol stärkt, im allerbesten Falle sogar, stets nur den Körper gegen den Geist, oder erzeugt einen falschen, unnatürlichen Geist, der auf blosser Nervenaufregung beruht und des Menschen besseres Sein nicht erhöht, sondern - medizinischen Gebrauch5) allein ausgenommen - eher erniedrigt.
5) Dieser muss natürlich stets vorbehalten bleiben. Es darf aber der Alkohol, so wenig als z. B. das Opium, ein Genussmittel werden. Dadurch ist er aus einem Segen ein Fluch geworden. Aus dem gleichen Grunde halten wir seine Ersetzung durch Surrogate, die blosse Genussmittel, für unnöthig.

Daher durften in der alten israelitischen Welt die Priester keinen Wein trinken, so oft sie in das Heiligthum gingen, oder in der altrömischen die Frauen überhaupt nicht, und noch heute ist der Alkoholgenuss dem feineren weiblichen Wesen kaum zuträglich. Auf dieser Anschauung beruht zum Theil auch die Nüchternheit der katholischen Priester bei der Messe; der Geist des Menschen soll nicht durch äusserliche Mittel, sondern nur durch Erhebung aus seinem eigenen besten Wesen heraus, oder durch Anhalt an das göttliche gesteigert werden.

Aber auch hier heisst es, wie noch ausserdem oft: "Wer es fassen mag, der fasse es", und Viele fassen es heute noch nicht, die dann Knechte des Körpers werden, während sie Ritter des Geistes sein sollten.

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Direkt betrifft dies die drei Stände, von denen wir gesprochen haben, und die nur mit der Abstinenz ihre ganze Pflicht gegen die Menschheit erfüllen können.
Doch hat die Abstinenz vor der Mässigkeit, auch der weisesten, folgende grosse Vorzüge voraus, die Alle neuerdings in Erwägung ziehen sollten:

Sie bewirkt zunächst eine Stärkung des Charakters, wie sie jeder grosse Entschluss, namentlich jede grosse Entsagung um Anderer willen, hervorbringt. Das ist ein Segen, den Jeder spüren wird, der sich dazu entschliesst. Er bekommt auch ein gutes Gewissen gegenüber dem Alkoholelend seines Volkes und namentlich der Jugend, welcher er den richtigen Weg zu einem gedeihlichen Leben zeigen soll. Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass dies das Hauptmotiv für mich gewesen ist, abstinent zu werden. 6) Ein akademischer Lehrer kann nicht wirksam gegen die "Trinksitten" der Studirenden, an denen Tausende in der Blüthe ihres Lebens zu Grunde gehen, reden, wenn er nicht abstinent ist. Da hilft alle Mässigkeit nichts, denn mässig wollen alle, selbst die ärgsten Trinker gewesen sein.
6)"Ich selbst kam zu der völligen Abstinenz gänzlich auf dem Versuchswege, nachdem ich von Jugend auf an Wein gewöhnt gewesen war, bin aber nun völlig überzeugt, dass der Alkohol bei einer guten Ernährung ganz entbehrlich ist und dass man dabei nach dem Gewinn eines beständig unverdorbenen kräftigen Magens, unbenommenen Kopfes und einer gesteigerten Arbeitskraft, neben der ökonomischen Ersparniss als Prämie davonträgt." Vergl. Hilty, Kranke Seelen. Frauenfeld und Leipzig 1907, S. 50

Es ist auch eine zweifellose Erfahrungsthatsache, dass ein völliger sofortiger Bruch mit etwas Unrichtigem leichter ist, als ein Paktiren mit demselben, und dass es dabei nur darauf ankommt, eine ganz kurze Zeit hindurch ein gewisses Unbehagen zu überwinden, das mit jedem Aufgeben einer Gewohnheit verbunden ist, während eine wirkliche Mässigkeit eine permanente Willensanstrengung erfordert und dabei doch niemals eine sichere Grundlage für das richtige Mass findet.

Ebenso zweifellos ist es, dass die Abstinenz eine ganze Reihe von andern guten Gewohnheiten ganz natürlich mit sich bringt. Sie verhindert allmählig ein jedes unnatürliche Lebensbedürfnis; sie beseitigt sofort die Neigung zum Hauchen und erleichtert das Aufgeben auch dieser hässlichen Gewohnheit, die wir von Wilden angenommen haben. Sie vermindert gänzlich die Neigung zu übermässig, oder zu sonst ungehöriger Geselligkeit mit Allem, was daran hängt; bei uns vornehmlich auch die Neigung zu schlechter Politik, Vereinsmeierei und zu der Vergnügungs- und Festsucht, welche die Ursache so vielem Uebelstände im öffentlichen und privaten Leben ist und mit dem Alkohol steht und fällt.

Sie verschafft Ihnen ferner einen gesunden Magen und einen klaren Kopf und damit eine Arbeitskraft und Arbeitsfreudigkeit, welche die bloss Mässigen, die aber dennoch jeden Nachmittag oder Abend "ihr Bier" haben müssen, niemals erlangen; namentlich allen zur Nervosität neigenden Personen ist nur gänzliche Abstinenz zu empfehlen.

Damit ist natürlich auch verbunden ein verlängertes Leben sofern man das als einen Vortheil betrachten will dergestalt, dass jetzt schon manche Lebensversicherungsgesellschaften den Abstinenten ihr Leben um geringere Prämien als Ändern versichern.

Selbstverständlich wird damit endlich auch eine nicht unbedeutende Ersparniss erzielt, und ist den "schlechten Zeiten" oder "gesteigerten Lebensbedürfnissen", die jetzt eine so grosse Rolle spielen, am leichtesten dadurch abzuhelfen, dass man ganz über überflüssige, ja sogar schädliche Bedürfnisse und Gewohnheiten aufgibt.

Es wäre sogar eine nicht ganz unbillige Forderung des Staats gegenüber seinen Beamten und Angestellten, welche beständig Theuerungszulagen beanspruchen, wenn er ihnen zumuthete, gleichzeitig auch ihre kostspieligen und unnützen Gewohnheiten etwas zu reduziren.

Das Beste an der Abstinenz ist es eigentlich, dass man sie versuchen kann. Man braucht nicht an ihre Vortheile zu glauben, oder sich von irgend Jemand dazu überreden zu lassen; wir denken auch nicht daran, dies hiemit zu thun. Man kann ganz ruhig selber den Versuch anstellen; ganz, oder auch theilweise, indem man anfänglich bloss etwa das Bier aufgibt, das dermalen vielleicht die schädlichste und unnützeste der Alkoholgewohnheiten ist, und sich dabei sogar den ehrenvollen Rückzug zu seinem "Stammtisch" vorbehält der für manchen Biertrinker fast die Stelle von "Haus und Hof" vertritt, oft genug auch an deren Stelle wirklich getreten ist.

Wir wagen es dabei zu behaupten, dass manche "Mässige" den Versuch nicht machen weil sie ihn fürchten und in Wirklichkeit von den sämmtlichen aufgezählten Vorzügen der Abstinenz überzeugt sind. Es kommt nur nicht immer zu Tage, oder zur Aussprache. Der Verfasser dieses Aufsatzes wohnte einst einer Eidg. Kommission bei, welche, wie üblich, von dem Kanton, in weichen sie sich begab, zu einem Abendessen eingeladen wurde. Auf der Festtafel prangten die sämmtlichen guten Weine des Landes und der Regierungspräsident verfehlte nicht in seiner Bewillkommungsrede auf dieselben hinzuweisen und in scherzhafter Art sein Bedauern auszusprechen, dass es unter seinen Gästen auch Verächter dieser herrlichen Gaben der Natur zu geben scheine. Eine Stunde nach Mitternacht, als längst die allgemein menschenfreundliche Stimmung eingetreten war, welche dem reichlichen Genuss des Weines zu folgen pflegt, erschien der gleiche Redner plötzlich an der Seite des renitenten Abstinenten, welcher sich inzwischen bei Selterswasser und Kaffee auch ganz wohl befunden hatte, und sprach nach einigen einleitenden Bemerkungen als Gutenachtgruss das denkwürdige Wort: "Au fond, Monsieur, c'est vous, qui avez raison".
Dabei wird es wohl sein Verbleiben haben, so oft die ruhige verständige Ueberlegung, oder auch die augenblicklichen Folgen des Alkohols, bei den Mässigen sich einstellen.

III.

An uns hingegen ist es nun, dieses verständige Werk verständig weiter zu führen, und dazu gehört jetzt unseres Erachtens folgendes Programm:

1. Das Hauptaugenmerk in der Propaganda ist auf die Herbeiführung eines vermehrten Eintritts der Aerzte, Geistlichen und Lehrer in die Reihen der Alkoholgegner zu richten; diese müssen wir allmählig haben, und sie haben auch eine bestimmte Berufspflicht, Alkoholgegner, und daher, als Vorkämpfer in dieser guten Sache, Abstinenten zu sein.
2. Als allgemeine staatliche Massregel und Gegenstand einer Bundesrevision ist die local option der Kantone und Gemeinden ins Auge zu fassen, die von allen allgemeinen Massnahmen den meisten und unmittelbarsten Erfolg verspricht und auch die entgegenstehenden Interessen am besten schonen kann.
Verbunden damit das Frauenstimmrecht; denn damit allein wird die Stimmenzahl der Abstinenten um mehr als das Doppelte erhöht und jeder fernere ernstliche Widerstand gebrochen werden können. Das zeigt die Erfahrung bereits in mehreren Ländern.
3. Zu diesen Zwecken muss eine noch bessere permanente Verbindung der Alkoholgegner erzielt werden, damit nicht Vorgänge, wie sie in Neuchâtel und Genf möglich wurden, sich wiederholen, und auch nicht einer zweckmässigen Leitung solcher Agitationen, wie die letztverflossene, von wohlmeinender Seite Hindernisse bereitet werden können.

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Wir wissen es, schliesslich gesagt, ganz wohl, dass es noch eines weiteren Jahrhunderts bedürfen wird, um dieser Alkoholfrage und einigen mit ihr verwandten Fragen zum gänzlichen Siege zu verhelfen. Die Widerstände sind noch zu gross, und es nützt unseres persönlichen Erachtens sogar ziemlich wenig, in einzelnen praktischen Fragen voranzukommen, ohne dass vorher eine bessere philosophische oder religiöse Grundlage, und eine richtigere Ansicht über das geschaffen wird, was das Glück und den Werth des Lebens ausmacht, die jetzt noch vielfach fehlt. Den eigentlichen Materialisten fehlt sogar noch das Verständniss für unsere Auffassung.

Darüber müssen wir, zu allererst in den gebildeten Klassen, ins Reine kommen, was noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.

Wir sind dabei weit entfernt von jeder Neigung zu Illusionen in diesem massgebenden Punkte. Dennoch aber ist so viel gewiss, dass in alle sittlichen Fragen eine Bewegung gekommen ist, und dass namentlich eine Gleichgültigkeit gegen dieselben, wie sie der bisherige naturwissenschaftliche Materialismus in weiten Kreisen hervorbrachte, bereits nachgelassen hat.

Aber auch das ist ebenso gewiss, dass es in moralischen Dingen keinen Frieden im Sinne von Vermittlung zwischen Gut und Böse, und auch kein "Jenseits von Gut und Böse" gibt, sondern nur:

"Krieg mit Amalek von Kind zu Kindeskind".
Darauf machen Sie sich daher auch gänzlich gefasst.


Erschienen in "Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft ", 1908, S. 277-294
HILTY, Carl (Hrsg.).Politisches Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft. (ab Jg. 24/1910: Begründet von Carl Hilty. Fortgesetzt von W. Burkhardt). Bern, Wyss 1886-1915

Zitiert nach: "Die Aufgabe der akademischen Jugend im Kampf gegen den Alkoholismus" - "Mässigkeit oder Abstinenz?" Zwei Kundgebungen von Prof. Dr. C. Hilty. Bern, Wyss 1910

Carl Hilty, 1833-1909. 1874 berief ihn der Berner Regierungsrat auf Lebenszeit als Prof. für Bundesrecht und kant. Staatsrecht. Ab 1882 las er auch allg. Staatsrecht und Völkerrecht. Im Militär gehörte er ab 1862 dem Justizstab an und stand ab 1892 der Militärjustiz als Oberauditor vor. Hilty wurde 1890 in den Nationalrat gewählt. (Hist. Lexikon der Schweiz)
Mehr zu Hilty
Mehr zu der "Local Option" (Gemeindebestimmungsrecht)

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