War August Forel ein Rassist?
Gottfried Sondheimer



Rassenhygiene und Antialkoholbewegung zwischen Wissenschaftlichkeit und Ideologie

Unter dem Titel «Die Tausendernote: Blamage oder Panne?» stellte der «Beobachter» vom 24.11.89 unter anderem fest: «Der Schweizer August Forel war zwar ein hervorragender Insektenforscher und Psychiater, aber auch ein schrecklicher Rassist». Als Grundlagen für seinen Artikel dienten dem «Beobachter» das Buch «Tödliches Mitleid» (1) des bekannten bundesdeutschen Sozialpsychiaters Klaus Dörner und die Dokumentation einer "Bürgerkommission für Menschenrechte" über August Forel (2).

Mitarbeiter und sogar Patienten der Forel-Klinik fühlten sich vom Beobachter-Artikel angesprochen. Geht doch die Gründung der Klinik im Jahre 1888 auf die persönliche Initiative Forels zurück (3). August Forel «war ein sehr vielseitiger Mensch: Ameisenforscher, Neurologe und Hirnanatom (Mitbegründer der Neuronentheorie), Psychiater (Neuerer der Anstaltspsychiatrie als Professor in Zürich von 1879 bis 1898), Psychotherapeut (Hypnotismus, Alkoholismus, Psychopathologie), Sozialhygieniker (Bekämpfung der Trinksitten, Sexualfrage, Frauenfrage) und Philosoph (Gehirn-Seele-Problem, Ethik der Volksgesundheit)» (4). 1984 wurde die Heilstätte Ellikon in Forel-Klinik umbenannt.

Liquidation jeglichen sozialen Ballastes die «Endlösung»?

Möglicherweise hat Klaus Dörner, Professor für Psychiatrie im Landeskrankenhaus Gütersloh, der sich um die Untersuchung nationalsozialistischer Verbrechen in psychiatrischen Krankenhäusern und ihre Wiedergutmachung verdient gemacht hat, mit seinem Buch «Tödliches Mitleid» den Stein gegen Forel ins Rollen gebracht.

Er wechselt von einer Weitsichtoptik über Forel auf eine übergrosse Nahsichtoptik. Bei Dörner (1988) liest sich das wie folgt: «Einer der berühmtesten europäischen Ärzte der Wende zum 20. Jahrhundert und mit Sicherheit der bekannteste medizinische Sozialreformer und Experte für die Soziale Frage war August Forel. Seine liberale Fortschritts und Wissenschaftsgläubigkeit ist repräsentativ für seine Zeit, daher soll er hier für seine gesamteuropäische Generation sprechen: “Durch Recht und Religion beherrscht und die soziale Hygiene vernachlässigend, verlangt die Medizin von den Ärzten, dass sie selbst das elendeste Geschöpf so lange am Leben erhalten, als nur möglich. Für einen Geburtshelfer ist ein Triumpf, die Geburt selbst der traurigsten Wesen zu ermöglichen und sie am Leben zu erhalten. Als Ärzte haben wir leider die Pflicht, das Leben der Idioten, der Entarteten, der geborenen Verbrecher und der Irrsinnigen so lange wie möglich zu erhalten; wir sind sogar verpflichtet, viele derselben, die sich selbst töten möchten, daran zu hindern" (5)». Ein wenig später schreibt Dörner (1988): «Unübertroffen hat Forel das eigentliche gesellschaftspolitische Ideal und die diesem Ziel dienende Endlösung der Sozialen Frage (hervorgehoben vom Verfasser) für seine Ärztegeneration und damit auch für die bürgerliche Industriegesellschaft insgesamt folgendermassen zum Ausdruck gebracht: "Wir bezwecken keineswegs, eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die Defekten unter den Menschen allmählich ... durch willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitige, und dafür bessere, sozialere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer immer grösseren Vermehrung zu veranlassen"» (6). Diese unbekannte Nahsicht verwandelt «einen der berühmtesten Ärzte, Naturforscher und Sozialreformer» (7) in einen liberalen Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigen, der zum Ausdruck bringt, "dass das Reden von der neuen Rasse und vom möglicherweise nordischen Übermenschen nichts als propagandistisches Getöse sei, Reklame - Verpackungsmaterial für das eigentlich beabsichtigte Liquidieren jeglichen sozialen Ballastes" (8).

In einem so gewählten Deutungszusammenhang rückt August Forel nicht nur in die Ahnenreihe der NS-Schergen, sondern gerät sogar noch über diese hinaus, da das Reden von der neuen Rasse und dem Übermenschen gleichsam nur Vorwand für eine viel radikalere «Endlösung» darstellt, nämlich die gesellschaftliche «Liquidation jeglichen sozialen Ballastes».

Das hermeneutische Vorgehen Dörners ist für seinen Urheber nicht ganz ungefährlich, da es als Bumerang auf sein wissenschaftliches Bemühen und menschliches Engagement zurückfallen könnte. Mit dieser sehr vereinfachenden historisierenden Deutungsmethode wird nämlich der Mensch und Wissenschaftler August Forel und sein Werk aus jeglichem allgemeinhistorischen und lebensgeschichtlichen Kontext paradigmatisch herausgehoben und zu einem rassistischen Vorläufer bürgerlicher Kräfte stilisiert, die Unmenschliches im Schilde führen.

War August Forel ein Rassist? Er hat sich zu verschiedenen Zeiten anders geäussert. Im September 1890 sprach August Forel zu den Studenten in Christiana und Uppsala in Schweden:

«Nicht sinnliche, schlaue, gemütlose Weiber dürfen wir uns auswählen, wenn wir wahres Glück wünschen, wenn wir Kinder haben wollen, die unser Stolz werden, sondern gute, gewissenhafte, ethisch und geistig hochangelegte Mädchen aus soliden Familien. Das ist die Zuchtwahl der Zukunft, die Eugenik Galtons, für jeden, der das Erblichkeitsgesetz verstanden hat. Brauche ich nun zum Schluss noch den Zusammenhang dieses ethisch-sozialen Exkurses mit der Alkoholfrage zu betonen? Der Alkohol, der die Sinnlichkeit momentan erhöht, um sie später abzustumpfen, der durch die langsame, unmerkliche Vergiftung unseres Gehirns unser höheres ethisches Fühlen, Denken und Wollen in erster Linie abstumpft und zerstört, der uns noch tierischer und roher macht, als wir es schon sind, der Alkohol, der unsere künftige Generationen im Keime verdirbt und entartet («Morels Gesetz», der Verfasser), ist der allerschlimmste Feind der Zukunft des Menschengeschlechts. Wir müssen ihm den Ausrottungskrieg erklären und nicht ruhen, bis wir ihn definitiv und gänzlich in das chemische Laboratorium verbannt haben, wo er, wie das Morphium, das Opium, das Kokain, der Haschisch und wie die Gifte alle heissen mögen, allein hingehört. Der nächste Fortschritt der Menschheit, die materiell kaum sehr viel weiter kommen dürfte, als sie nun ist, muss ein ethischer und intellektueller werden. Dazu ist aber ein gesundes Gehirn notwendig. Die chronische Alkoholnarkose kann nur die Rückbildung, das Chinesentum herbeiführen. Der Alkohol war somit neben dem Kultus des goldenen Kalbes der wahre Teufel des neunzehnten Jahrhunderts. Möge das zwanzigste beide besiegen! Dann wird unsere Menschheit einer glücklicheren Zukunft entgegen gehen» (9).

Forels Kampf gegen den Alkohol hatte in den 90er Jahren «etwas Apostolisches» an sich, was ihn auch in Gegensatz zu seinen ärztlichen Kollegen brachte. «... Die Forel'sche Schule denkt so: Alles Unheil in der Welt entsteht durch den Alcohol und durch tausendjährige Fortwucherung dieses Übels. Wie es Ärzte gibt, die jeden Menschen für syphilitisch halten, so betrachten die Forelianer alles pathologische als alcohologen. Da nun ja der Mensch keinen freien Willen hat (!) so ist es am besten, man rottet das Übel mit Gewalt aus. Also absolutes Verbot des Alcohols für die Menschheit, Einzwängung der Trinker in die Trinkeranstalt. Hat der Trinker sexuelle Exzesse begangen, so wird er castriert...» (10).

1901 leitete August Forel die feierliche Eröffnungssitzung des VIII. Internationalen Antialkoholkongresses in Wien mit der «Alkoholfrage als Kultur- und Rassenproblem» ein (11): «Es steht fest, dass unsere menschliche Kultur und ihr Fortschritt oder Rückschritt vom menschlichen Gehirn und seiner Tätigkeit getragen wird. Ebenso sicher ist es, dass ihr Zustand einerseits von der vererbten angeborenen Qualität, andererseits von der individuellen Erziehung und Ausstaffierung dieses Organes mit Kenntnissen und sittlichen Gewohnheiten abhängt.

... Es ist daher Aufgabe einer weisen Staatsleitung und derjenigen Organe, die der Erziehung, der Ausbildung und der Sittenleitung eines Volkes vorstehen, die Entartungs- und Rückschrittsfaktoren zu bekämpfen, die Faktoren des Fortschritts und einer höheren Entwicklung dagegen zu pflegen.»

Ab 1903 entwickelte Forel das unermüdliche und kämpferisch vertretene theoretische Konstrukt der Blastophthorie, der direkten Keimverderbnis durch Alkohol - ein Gedankengut, das erheblich zur Ausbreitung der Abstinenzbewegung und zum Kampf für die Totalabstinenz beigetragen hat. Aber 1924 schrieb er gewissenhaft und offen, dass der Beweis dieser Lehre noch ausstehend sei (12). Zu Forels Ethik dieser Jahre bemerkte Hans Walser, der die Briefe von August Forel ediert hat:

«Forels Ethik und seine sexuelle Ethik im besonderen war sehr stark auf die Zukunft, auf das Wohl künftiger Generationen bezogen. Man wird sich deshalb nicht wundern, wenn Beziehungen zu Vertretern der «Rassenhygiene» bestehen. Aber Forels Brief vom 30.4.1912 zeigt, wie früh diese bereits zu entarten begann, wie Forel bald misstrauisch wurde und wie er sich energisch von ihren nationalistischen Verirrungen lossagte» (13).

Yvorne, 30. April 1912

Hochgeehrter Herr Kollege

Nur zwei Worte: Halte mich nicht für den berühmten Forel, sondern ganz einfach für einen schlichten kleinen Schweizer, der wie jeder andere Mensch seine Ansicht zu haben sich erlaubt... Es fällt mir durchaus nicht ein, wie Sie zu glauben scheinen, meine Persönlichkeit besonders zu pflegen. Ausser meinen Studien habe ich nie daran gedacht. Ich kenne nur eine Pflege der Persönlichkeit ausser Essen, Schlafen und sonstiger Hygiene und diese heisst Arbeit und zwar vor allem soziale Arbeit.

... Da wo jedoch Ihr Vergleich total hinkt ist, wenn Sie unsere sogenannten Nationen mit Individualitäten vergleichen. Besonders unsere Kulturnationen sind vollständig künstliche Produkte, Produkte der Kriege und des Aufdringens einer Kulturform durch Eroberer an die Eroberten. Die Schweizer Nation besteht aus Germanen, Romanen, Kelten usw. Ebenso mischt sich Deutschland, Frankreich usw. und erst recht Nordamerika, das aus einem Sammelsurium aller möglichen Rassen besteht. Es ist eine innere und wissenschaftliche Lüge zum Beispiel, wenn sich die deutsche Nation als rein germanisch hinstellt. Sie ist ganz voll keltischen, slavischen und anderen Blutes.

... Deshalb leugne ich vollständig die Berechtigung eines künstlich erworbenen Nationalismus, nicht speziell für die Deutschen, sondern für alle Völker.

Er ist schädlich, weil er die Gegensätze verschärft und dadurch den Krieg, den Hass und die Selbstüberhebung jeder einzelnen Nation schürt... Ich habe stets die grösste Sympathie und die grösste Liebe für die deutsche Nation gehabt, der ich viel verdanke. Aber gerade deshalb bin ich ein erklärter Feind des Alldeutschtums, das notwendig zum Chauvinismus führt und wie alle anderen Chauvinismen eine Beleidigung und Reizung aller anderen Völker bedeutet, mögen sie englisch, französisch, italienisch, deutsch oder schweizerisch heissen. Ebenso: Schweizer «Wilhelm Tell Patriotismus» ist fraglich usw.

Ich bestreite daher aufs entschiedenste Ihre sogenannte Nationalzelle. Das ist ein Kunstprodukt schlimmster Sorte, Vater aller Kriege und Nationalitätenhassgefühle, das heutzutage bei der Annäherung aller Kulturvölker nie energisch genug bekämpft werden kann.

Selbstverständlich darf man mich hier wieder nicht missverstehen. Die naturwissenschaftlich wahren Rassenunterschiede verkenne ich keineswegs und bin ich durchaus nicht dafür, dass wir uns mit minderwertigen Rassen wie die Neger international mischen. Aber es ist nicht wahr, sogar eine tiefe innere Unwahrheit, wenn man von Naturgesetzen bei den Grenzen unserer Kulturnationen spricht.... So lang ich noch einen Funken Lebenshauch besitzen werde, werde ich für die internationale Verbrüderung und für den internationalen Friedensbund der Völker wirken, der allein bewirken kann, dass nicht einzelne Nationen andere unterdrücken und misshandeln... Hiezu braucht es allerdings eine internationale Hülfssprache verbunden mit einem gesunden Sozialismus.

... In voller Verehrung Ihres idealen und ehrlichen Wollens, sowie Ihrer grossen Aufopferung zeichne ich mit internationalem Gruss

Ihr (August Forel)

Ab 1920 bekannte sich August Forel zur überkonfessionellen Weltreligion der Bahaï und zog seine eigene «wissenschaftliche Religion» zurück (14). «Die gesamte Menschheit ist als Einheit anzusehen. Alle Vorurteile gegenüber anderen Menschen, Völkern und Rassen müssen beseitigt werden... Zwischen wahrer Religion und Wissenschaft besteht kein Widerspruch» (15).

Zeitgeist und Lebensgeschichte

Es ist genauer zu untersuchen, weshalb sich Forel eine Zeitlang so vehement für eine Eugenik und Rassenhygiene heute würde man von Humangenetik reden eingesetzt hat, wenn nicht aus rassistischen Gründen. Zwei Wurzeln seiner charismatisch geprägten, rastlosen und «ethisch-agitatorischen» Tätigkeit lassen sich ausmachen: eine zeitgeschichtliche und eine lebensgeschichtliche Wurzel.

Im zeitgeschichtlichen Kontext war Forel ein Kind seiner von Niedergangsbewusstsein geprägten Epoche, die, unter den unüberschaubaren Konsequenzen einer industriellen Revolution leidend, sich harten sozialdarwinistischen Utopien hingab und den weitverbreiteten Ängsten einer allgemeinen Degeneration des Menschengeschlechts (16) und einer zunehmenden Dekadenz der Gesellschaft ausgeliefert war (17).

Um diese verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten, war Forel mit anderen kulturpessimistischen Zeitgenossen der passionierten Meinung, dass in jedem Fall das Erbgut des Menschen, das Keimplasma (Weismann 1886) zu schützen sei. Eine «ethisch-soziale» Lebensaufgabe für den säkularisierten, sich zum Monismus bekennenden Naturwissenschaftler August Forel! Für Forel verdichtete sich das «Endziel» nicht als «Endlösung der sozialen Frage», wie es Klaus Dörner in seinem Deutungskonstrukt darstellt, sondern als Lösung der «Alkoholfrage» und der «Sexuellen Frage».

Auf die Entwicklung der Lebensgeschichte Forels hat Annemarie Wettley ausführlich hingewiesen. Forel, aus einem streng calvinistisch geprägten Elternhaus stammend, «musste auf seine Weise nach der Art seines Jahrhunderts dem Übel auf den Grund gehen; und diese Gewissenserforschung im Individuellen wie im Allgemeinen war sein calvinistisches Erbe, war calvinistische Methodik, war das ewig skrupulöse Prüfen einer immer gefühlten Verpflichtung» (18). Alkohol und Prostitution, die Geisseln der Menschheit, galt es zu bekämpfen. «Die Ehrfurcht vor dem Keimplasma, der unsterblichen Keimbahn des Menschen» (19) liess August Forel zum «Apostel der Wahrheit» gegen den «Teufel des 19. Jahrhunderts», den Alkohol werden. Die zur «Sexuellen Frage» (20) sich fortentwickelnde Alkoholfrage beinhaltet für Forel eine «Zukunftsethik», eine auf das Wohl künftiger Generationen bezogene Ethik, ganz, wie ich meine, im Sinne des von Hans Jonas formulierten «Prinzip Verantwortung» (21). Deshalb das ethisch soziale Eintreten Forels für die Rassenhygiene und die Antialkoholbewegung. August Forel nahm mit seinen Stellungnahmen an der widersprüchlichen Entwicklung der Eugenik teil. Weingart (22) schreibt:

«Die Eugenik war von Beginn an sowohl in theoretisch wissenschaftlicher als auch in politisch sozialer Hinsicht widersprüchlich. Eugeniker konnte man aus unterschiedlichen Gründen und Motiven sein. Eugenische Gedanken lassen sich infolgedessen in den verschiedensten politischen Lagern nachweisen. Das Spektrum der Positionen reicht von «ariomanischen» Rassisten, die die nordische Rasse bedroht sahen, über medizinische Technokraten, die mit Hilfe des neuen Typus von sozialer Hygiene die Kosten des Gesundheitswesens senken und die Nation stärken wollten, bis hin zu evolutionären Idealisten, die von einer biologischen Höherentwicklung des Menschen träumten» (22). Ohne Zweifel gehörte August Forel zu den kryptoreligiösen, evolutionären Idealisten. Das zeigt seine zunehmende Distanzierung von den Rassenhygienikern und die Entwicklung seiner späteren Lebensauffassung mit dem Übertritt zur Bahaï Religion.

Und noch einmal Peter Weingart: «Vor dem Hintergrund der rassenhygienischen Praxis des Nazi Regimes erscheint die Geschichte der deutschen Eugenik leicht als eine gradlinige Entwicklung, deren brutales Ende angeblich bereits in den frühesten Konzepten von Schallmayer oder Ploetz unausweichlich vorgezeichnet war. Eine solche Sichtweise ist zumindest einseitig; sie zeichnet ein allzu «stromlinienförmiges» Bild des historischen Prozesses, der keineswegs widerspruchsfrei verlief» (23).

Eindeutig ist also Vorsicht geboten, Forel linear kausal in direkte Beziehung zum späteren rassistisch destruktiven NS-System zu setzen. Anfänglich war es zur Begründung der NS Ideologie noch opportun, sich auf den grossen neutralen Schweizer berufen zu können. Im September 1937 wurde Forels Ausgabe der «Sexuellen Frage» und «Sexuellen Ethik» durch die Politische Polizei beschlagnahmt (24).

Aus kritischer und zeitlicher Rückschau merkt Claus Finzen mit Recht an (25): «Man wollte Entartung verhindern, wenn man sie schon nicht behandeln konnte, und nahm den Kampf gegen den Alkoholismus auf. Damit geriet das soziale und psychiatrische Problem Alkoholismus unter den ideologischen Einfluss des Degenerationsdenkens und wurde zum Modellfall, an dem sich Entstehung, Wesen und Verlauf der Degeneration in exemplarischer Weise darstellen liess. Gerade auf dem Gebiet des Alkoholismus wurde der Degenerationsbegriff weiterentwickelt, enger gefasst und in der ganz auf den Alkohol gemünzten «Blastophthorie» Forels auf eine scheinbar naturwissenschaftliche Grundlage zurückgeführt».

Es trifft zu, dass August Forels wissenschaftlicher Weg, was Rassenhygiene und Antialkoholbewegung anbetraf, kein gradliniger war und ideologische Verirrungen aufwies, die er im Glauben an ihre Richtigkeit aus kämpferischer Überzeugung vertrat. Unbestritten ist aber auch, dass er mit kritischer Vernunft dort korrigierend gegensteuerte, wo Fragen letztlich (zunächst noch) unbeantwortbar bleiben mussten.

Auch nach der Katastrophe des Dritten Reiches sollte eine sachliche, offene und faire Diskussion der Humangenetik im Spannungsfeld der Sozialen Frage auf dem Hintergrund ethischen Handelns und wissenschaftlicher Redlichkeit angesichts aller ideologischen Auseinandersetzungen immer noch möglich sein.

Anmerkungen
(1) Klaus Dörner: Tödliches Mitleid. Zur Frage der Unerträglichkeit des Lebens oder die Soziale Frage: Entstehung, Medizinisierung, NS Endlösung, heute, morgen. Verlag Jakob Van Hoddis. 1988.
(2) Bereits wurde die Forel-Klinik aufgefordert, ihren Kliniknamen zu ändern.
(3) August Reimann: 100 Jahre Forel-Klinik. Wirken der Heilstätte für Alkoholkranke in Ellikon an der Thur (Kanton Zürich) 1888 bis 1988. Verein Forel-Klinik, Ellikon an der Thur. 1989.
(4) 96. Jahresbericht des Vereins Forel-Klinik über das Jahr 1984, 1. 1984 wurde der Name Forel-Klinik statt Heilstätte Ellikon eingeführt.
(5) Klaus Dörner: Tödliches Mitleid, 30, zitiert nach: August Forel, Der Weg zur Kultur, Anzengruber, Leipzig, 1924, 125, 444f., einer Aufsatzsammlung mit zeitlich verschiedenen Veröffentlichungen.
(6) Klaus Dörner: 32, zitiert nach: Weg zur Kultur, 593.
(7) Rolf Meier: August Forel 1848-1931, Arzt Naturforscher Sozialreformer. Eine Ausstellung der Universität Zürich, Herbst
1986.
(8) Klaus Dörner: Tödliches Mitleid, 33.
(9) August Forel: Die Trinksitten, ihre hygienische und soziale Bedeutung. Ihre Beziehung zur akademischen Jugend. Verlag der Schriftstelle des Alkoholgegnerbundes Basel (1891). Ansprachen an die Enthaltsamkeits-Vereine der Studenten zu Christiana und Uppsala am 7. und 13. Sept. 1890.
(10) Aus einem Brief Dr. med. Wolfgang Binswangers an Hermann Sahli, Professor für Innere Medizin in Bern (ca. 1896). nach: Hans H. Walser, August Forel, Briefe-Correspondance 1864-1927. Verlag Hans Huber Bern/Stuttgart. 1968, 523.
(11) August Forel: Die Alkoholfrage als Kultur und Rassenproblem. Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten, offizielles Organ des Alkoholgegnerbundes und des Vereins abstinenter Ärzte des deutschen Sprachgebietes. 1901. 11. Jahrg., Heft 6, 161 168.
(12) Rolf Meier: August Forel, 82.
(13) Hans Walser: August Forel, Briefe, 34. Der abgedruckte Brief ist an Dr. Rösler, Reichenburg, adressiert (423-426).
(14) Rolf Meier: August Forel 134.
(15) August Forel: Der Weg zur Kultur, 132.
(16) Die weitverbreitete Degenerationstheorie des französischen Psychiaters B. A. Morel (1809-1873), ein vormendelsches Gedankengut, geprägt von der religiösen Theorie der Erbsünde. In: Pierre Pichot, Ein Jahrhundert Psychiatrie. Roche, Editions Roger Dacosta. Paris, 1983, 20-22.
(17) Ausgezeichneter Abriss in: Peter Weingart, Jürgen Kroll, Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.1988.
(18) Annemarie Wettley: August Forel. Ein Arztleben im Zwiespalt seiner Zeit. Otto Müller Verlag Salzburg, 1953, 91. Mit Berechtigung spricht sie von einem «Kryptocalvinismus» (95).
(19) Annemarie Wettley: August Forel 91.
(20) August Forel: Die sexuelle Frage. E. Reinhardt, München, 1905.
(21) Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für
die technologische Zivilisation. Insel Verlag Frankfurt am Main. 1979 (Lizenzausgabe Buchclub Ex Libris Zürich, 1987).
(22) Weingart, Kroll, Bayertz :Rasse, Blut und Gene, 105.
(23) Weingart, Kroll, Bayertz: Rasse, Blut und Gene, 104.
(24) Rolf Meier: August Forel, 94.
(25) Claus Finzen: Alkohol, Alkoholismus und Medizin. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Psychiatrie. Rehburg Loccum. Psychiatrie Verlag. 1985, 91.


Literaturverzeichnis

Dörner K. 1988: Tödliches Mitleid. Verlag Jakob van Hoddis.
Finzen C.1985: Alkohol, Alkoholismus und Medizin. Psychiatrie-Verlag. Rehburg-Loccum.
Forel A. 1891: Die Trinksitten, ihre hygienische und soziale Bedeutung. Verlag der Schriftstelle des Alkoholgegnerbundes. Basel.
Forel A. 1901: Die Alkoholfrage als Kultur und Rassenproblem. Internationale Monatsschrift zur Bekämpfung der Trinksitten, 11, S. 161.
Forel A. 1905: Die sexuelle Frage. E. Reinhardt. München.
Forel A. 1924: Der Weg zur Kultur. Anzengruber. Leipzig.
Jonas H. 1979: Das Prinzip Verantwortung. Insel Verlag. Frankfurt am Main.
Meier R. 1986: Forel A. 1848 1931, Arzt Naturforscher Sozialreformer. Eine Ausstellung der Universität Zürich.
Pichot P. 1983: Ein Jahrhundert Psychiatrie. Roche. Editions Roger Dacosta. Paris.
Reimann A. 1989: 100 Jahre Forel-Klinik. Verein Forel-Klinik. Ellikon an der Thur.
Verein Forel-Klinik: 96. Jahresbericht über das Jahr 1984.
Walser H.H. Forel A. 1968: Briefe-Correspondance 1864 1927. Verlag Hans Huber. Bern, Stuttgart.
Weingart P., Kroll J., Bayertz K. 1988: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main.
Wettley A.: Forel A. 1953: Otto Müller Verlag. Salzburg.


Autor: Dr. med. Gottfried Sondheimer, ehem. Direktor der Forel-Klinik, Ellikon an der Thur.

Anmerkungen des Webmasters:
Über den umstrittenen Wirtschaftstheoretiker, den Freiwirtschafter Silvio Gesell, schreibt Esther Brunner:
«Letztlich hängt die Einschätzung, für wie plausibel man es hält, Silvio Gesells Werk als antisemitisch aufzufassen, auch davon ab, ob man Silvio Gesell zugesteht, dass er Recht haben könnte mit seiner Zinskritik. Wer es aus ideologischer Verblendung ablehnt, dies überhaupt in Betracht zu ziehen, der oder die ist eher geneigt, in Gesells Zinskritik bloss ein Mittel zur Judenhetze zu sehen.»
Auf Forel angewendet heisst das:

«Letztlich hängt die Einschätzung, für wie plausibel man es hält, August Forels Werk als rassistisch aufzufassen, auch davon ab, ob man August Forels zugesteht, dass er Recht haben könnte mit seiner Alkoholkritik. Wer es aus ideologischer Verblendung ablehnt, dies überhaupt in Betracht zu ziehen, der oder die ist eher geneigt, in Forels Alkoholkritik bloss ein Mittel zur Rassenhetze zu sehen.»


Oder vereinfacht:
"Wenn man seinen Hund töten will, dann behauptet man, er habe die Tollwut."

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