Zeitgenosse Heberlein zu August Forel


"Einer der Gründer der zukünftigen Welt"

22. August 1922. Dicht ist die herrliche Kathedrale von Lausanne mit Menschen besetzt, während der Bundespräsident die zahlreichen, aus vielen Ländern herbeigereisten Teilnehmer des 16. Internationalen Kongresses gegen den Alkoholismus begrüsst. Viele Zuhörer müssen stehen. Da fällt mein Blick auf ein Paar derbe verstaubte Schuhe, auf einen aufgetragenen Anzug und bemerkt eine knochige Greisenhand, die einen verwitterten Strohhut hält, welcher gut seine zwanzig Sommer oder mehr zählen dürfte. Auf dem Rücken trägt der müde alte Wandersmann einen Rucksack. Wer mag der Unbekannte sein, der sich hierher verirrt hat und mit dieser souveränen Verachtung alles Äusserlichen über die Gebote der Mode und Kleidersitten sich in dieser festlichen Atmosphäre des Gotteshauses hinwegsetzt?
Endlich gelingt es, im Gedränge das von einem weissen Bart umrahmte Antlitz des alten Mannes zu erspähen: Unter prachtvoll hoher, tief durchfurchter Stirn blickt ein leuchtendes Augenpaar, in dem durchdringende Schärfe sich mit unendlicher Güte, revolutionäre Kampfeslust mit selbstloser Hilfsbereitschaft paart. Und plötzlich weiss ich: Das kann nur August Fo-rel sein, dem Berühmtheit und Ehrungen keine Spur seiner Bescheidenheit zu rauben vermochten. Das muss der Weise von Yvorne sein, der seit einem Jahrzehnt, durch Schlaganfall halbseitig gelähmt, mutig seinem Schicksal mit zäher Energie trotzt. Das ist der grosse Gelehrte, Forscher, Psychiater und Arzt, der unermüdliche Prophet hoher ethischer Forderungen, Bahnbrecher der Abstinenzbewegung und der Friedensbestrebungen, Wissenschaftler und Missionar alles Guten, der in mehr als einem halben Tausend von Büchern, Broschüren und grossen Aufsätzen seine Ideen ins Volk hinausgetragen hat, das ist der Gefeierte, welcher Ehrendoktor der Rechtswissenschaft und der Philosophie, Ehrenmitglied eines Dutzends wissenschaftlicher Verbände ist. Das ist der Edle, dessen Werke weit über die Grenzen unseres Erdteils hinweg der Schweiz mehr Ruhm, Ehre und Ansehen gebracht haben, als raffinierteste, millionenschwere Propaganda eines offiziellen Instituts es vermöchte. Das ist der Grosse, welcher Romain Rolland als Symbol erschien, „als der vollkommene Typus der Schweiz, wie sie sein soll". „Forel vereinigt", so schrieb Rolland, in einem einzigen Bündel die zerstreuten Lichter, welche in den heute sich bekämpfenden europäischen Zivilisationen erstrahlen. Dieser gute Schweizerbürger ist zur selben Zeit einer der Gründer der zukünftigen Welt, die sich auf den Ruinen erheben und welche das Heim der versöhnten Völker sein wird".

Besuch in der „Fourmilière"

Einige Jahre später. Ich wage es, als unbekannter Student auf einer Ferienwanderung in der „Fourmilière", dem „Ameisenhaufen" in Yvorne vorzusprechen, wie es vor mir schon Tausende Jugendliche, Wandervögel, Pfadfinder und junge Guttempler getan, und werde mit der nämlichen Herzlichkeit von Forel aufgenommen. Wie eine schwere Last schleppt der dem Besucher entgegenkommende Greis den von der Arbeit und dem Alter verbrauchten, vom Schlag getroffenen Leib. Doch über seine Gebrechen triumphiert der Geist des Ungewöhnlichen, der regelmässig um die fünfte Morgenstunde sein Tagwerk beginnt.
In der Studierstube sind Stühle, Gesimse, Tisch, ja selbst der Boden über und über mit Zeitungen, Büchern und Briefen übersät. Rastloser Arbeitswille hält den Alten frisch und der Wunsch, zu wirken, solange es Tag es, und zu helfen, solange das Herz schlägt. Vor einem stattlichen Bücherschrank bleibt er stehen: „Diese Bücher habe ich alle selber geschrieben", erklärt er schlicht, doch nicht ohne Stolz, und weist auf die 591 Bände und grösseren Aufsätze hin, die aus seiner Feder stammen, und auf die Übersetzungen seiner Werke in rund anderthalb Dutzend fremder Sprachen.
„Sind Sie Pazifist? Sprechen Sie Esperanto? Leben Sie abstinent?" Er wirft in den ersten Minuten der Begegnung diese Fragen dem ihm fremden Besucher an den Kopf. Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen Mitmenschen war ihm zeitlebens eine Selbstverständlichkeit. Er hasst konventionelle Höflichkeitsphrasen, er springt mitten hinein in die Probleme, die ihn beschäftigen, und fordert klare Stellungnahme, wie er selbst entschlossen und rücksichtslos zeitlebens Stellung bezogen hat, nur auf die Stimme seines Gewissens hörend.
Darin liegt wohl ein Teil von Foreis Grösse. Sie wurzelt nicht bloss in der Genialität eines überlegenen, ungeheuer vielseitigen Gehirns, das auf den verschiedenen Gebieten der Wissenschaft neue Wege wies. Nicht nur in seinem immensen Wissen, sondern in seinem Gewissen und in der Kraft eines lauteren Charakters, der den Mut fand, die Konsequenzen aus seinen Ansichten zu ziehen, ohne lange zu fragen, ob dies seinem Fortkommen schaden werde oder ob er sich mächtige Feinde auf den Hals lade. Dieser gewissenhafte Forscher blieb kein blosser Stubengelehrter, sondern schleuderte in glänzender, streng logischer Darstellung mit unerhörter Wucht und hinreissender Rednergabe seine Ideen ins Volk, Stellungnahme heischend. Darum revolutionierten seine Schriften vor allem auch die Köpfe einer unvoreingenommenen Jugend, vorab der akademischen. Sie gewannen ihm aber auch die Sympathien der hervorragendsten Geister seiner Zeit, unter denen einzig Gerhard Hauptmann, Masaryk und Romain Rolland genannt seien.

"Labor omnia vincit"

labor onia vincitAugust Forel, der am 1. September des Revolutionsjahres 1848 bei Morges geboren wurde, war ein schwächliches, schüchternes Kind, das sich von den derben Schulkameraden gerne zurückzog und sich in die Welt der Tiere flüchtete. Den Siebenjährigen fesselte, was da kreucht und fleucht, die Schmetterlinge, Käfer und Spinnen, die Schnecken, Wanzen, Bienen und vor allem die emsigen Ameisen mit ihrem Arbeitseifer, dem organisierten Zusammenleben in ihrem sozialen Sinn. Ihr Leben zu beobachten wurde der Knabe so wenig müde wie später der Greis. Dem Elfjährigen schenkte die Grossmutter das damals bedeutsamste wissenschaftliche Werk über die Sitten der Ameisen. Gierig verschlang das Kind das Buch. Es machte ihm tiefen Eindruck und liess ihm aber auch bewusst werden, dass es über die Sitten einer bestimmten Ameisenart Beobachtungen gemacht hatte, die dem berühmten Verfasser des Buches entgangen waren. Elf Jahre später wurden diese frühen Beobachtungen des Kindes Gegenstand der ersten wissenschftlichen Veröffentlichung des in Zürich studierenden angehenden Mediziners. Angeregt von der Naturforschenden Gesellschaft fand der Arbeitsame noch Zeit und Kraft, neben seinem Studium ein grundlegendes zoologisches Werk von 500 Seiten über „Die Ameisen in der Schweiz" zu schreiben, welches mit einem Schweizer und einem französischen Preis ausgezeichnet wurde. Es hielt die seit seinem siebten Lebensjahr gemachten Beobachtungen fest. Nie mehr sollte Forel das Interesse an den sozial so hoch entwickelten, in einer dem Staate ähnlichen Gemeinschaft lebenden Insekten loslassen. 3500 verschiedene Ameisenarten, Abarten und Rassen hat Forel während seines langen Lebens erforscht und beschrieben, das heisst einen bedeutenden Teil der 1910 der wissenschaftlichen Welt bekannten, zirka 6300 Ameisenarten. Und noch in seinen letzten Lebensjahren hat der halbseitig Gelähmte mit der linken Hand eigenhändig sein grosses fünfbändi-ges Ameisenwerk niedergeschrieben.
Wie war es möglich, so nebenbei, neben seiner eigentlichen Hauptarbeit, dies alles zu bewältigen? Neben der Direktion der Züricher Kantonalen Irrenanstalt Burghölzli und der Professur für Psychiatrie an der Züricher Universität (1879-1898), neben einer gewaltigen sozialen aufklärenden Arbeit, neben zahllosen Vorträgen und einer Fülle von Publikationen? Hatte Forel doch bis zu seinem 60. Geburtstag schon 23 grössere Arbeiten über Gehirnanatomie veröffentlicht, 73 über Physiologie, Psychologie und Hypnotismus, 60 über Psychiatrie und gerichtliche Irrenkunde, 37 über Soziologie, sexuelle Fragen und populäre Aufsätze, 70 über die Alkoholbekämpfung (neben 151 Zeitungsartikeln) und 227 Werke über Ameisen- und Insektenbiologie und vergleichende Anatomie.
Wie war es möglich, diese gewaltige Arbeitslast zu bewältigen? Das Exlibris des Forschers, das in jedes seiner Bücher eingeklebt wurde, gibt Aufschluss; es zeigt eine Ameisenarbeiterin, welche in ihren Kiefern eine Puppe trägt. Darunter die Inschrift: Labor omnia vincit - Arbeit überwindet alles.

Der Professor lernt vom Schuhmacher

Rasch hatte sich der junge Burghölzlidirektor Ruhm und Ansehen erworben. In einer Beziehung aber versagte er: So wenig wie andere Irrenärzte vermochte er Trinker zu heilen. Viermal versuchte er mit einem elsässischen Alkoholkranken sein Glück. Vergebens. Einige Monate nach dessen Entlassung kommt ein Brieflein, der Elsässer sei in einer frommen Anstalt bei Basel geheilt worden. Wie war das möglich?
Die damalige Behandlung der Geisteskranken empfand Forel als trostlos. „Ich sah..., wie der Alkoholismus immerwährend die Zahl der Geisteskranken vergrösserte und unsere ganze Kulturmenschheit immer mehr durch Entartung und Unglück zugrunde richten drohte. War da nichts zu machen? Sollte man mit verschränkten Armen zusehen, den Dingen ihren Lauf lassen und sich einfach mit der Pflege menschlicher Trümmer begnügen? Dagegen lehnte sich mein ganzes inneres Wesen auf". Doch was tun?
Der Schuhmacher Jakob Bosshard hatte sich einzelner vom Burghölzli ungeheilt entlassener Trinker mit Erfolg angenommen. „Es war beschämend", erzählte Forel, „der Schuhmacher behandelte mit Erfolg die Alkoholiker, und der Professor, der dafür vom Staat ein Gehalt erhält, kam nicht dazu." Warum nicht? Bosshard antwortete ganz einfach: „Ich bin Abstinent, Sie sind es nicht, und die Enthaltsamkeit und das Beispiel der Enthaltsamkeit sind für diese Leute notwendig."
Der grosse Arzt war vorurteilsfrei genug, vom Schuhmacher zu lernen. Standesdünkel war ihm fremd. So wurde er abstinent und gründete bald die erste Trinkerheilstätte unseres Landes in Ellikon und ernannte zum Entsetzen vieler Spiesser nicht einen Mediziner, sondern den Schumacher zu deren Leiter.
Doch wenig ist gewonnen, nur die Folgen von Trunksucht zu lindern, ohne die Quellen derselben zu verstopfen. Forel begriff rasch, dass es kein wirkungsvolleres Mittel zur Bekämpfung der Trinksitte gibt als selbst mit ihr zu brechen und als Abstinent zu leben. Er sah, wie einzelne, vor allem die skandinavischen Länder, der Schweiz in der Bekämpfung der Alkoholnot weit voraus waren, und stellte sich entschlossen in die Reihe der Alkoholgegner. 1887 organisierte er den zweiten Antialkohol-Kongress in Zürich, führte ein paar Jahre später in der Schweiz den Guttempler-Orden ein und fand in diesem jene Erziehungs- und Kampforganisation, die er gesucht hatte. Mit aller Klarheit erkannte Forel, dass die gewaltigen sittlichen, körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Schädigungen, die der Trunk angerichtet, nur durch ausdauernde Erziehungsarbeit überwunden werden können, die im politischen Kampf um eine fortschrittliche Wirtschaftsgesetzgebung ergänzt werden muss.
Mit gutem Beispiel ging Forel voran, baute die Organisation der Schweizer Guttempler auf. warb in zahllosen Städten und Dörfern unseres Landes, in ungezählten Reden dafür und wurde bald auch von dieser internationalen Organisation gebeten, in den meisten Ländern Europas seine geistvollen, fesselnden Vorträge zu halten. Von Skandinavien, Belgien bis hinunter nach Bulgarien, Serbien, Griechenland und der Türkei wirkte er. Er sprach bei den Arabern, hielt in Kleinasien, Afrika und in der Neuen Welt Vorträge und kämpfte für die Gesundung der Völker. Und wenn gelegentlich Hochnäsige es unter ihrer Würde fanden, sich in einer Organisation neben einfache Leute aus dem Volk zu setzen, konnte der Demokrat Forel ihnen sehr derb auf die Hühneraugen treten. „Woher stammst du denn, mein armer Freund? Woher kommst du, meine feine, zartfühlende Dame, mein gebildetes Fräulein? Du willst aristokratischer sein als die grössten Männer und Frauen, als Christus? Du glaubst dich zu vergeben oder zu erniedrigen, wenn du dich als Bruder oder Schwester eines Arbeiters, einer Dienstmagd findest? Gehe zurück auf deine Ahnen, studiere dein eigenes Ich, zwinge dich vielleicht einmal drei Monate lang, mit deinen eigenen Händen und mit deinem Kopf zu arbeiten, um dein Brot zu verdienen. Du hast mehr als andere erhalten oder geerbt, sei es materiell, sei es durch Erziehung, sei es durch glückliche erbliche Anlage deiner Geistestätigkeit; du hast die Pflicht, dieses den anderen zurückzugeben, indem du sie zu dir emporhebst, sie leitest, sie unterrichtest. Tust du es nicht, begibst du dich in eine traurige Kaste von Schmarotzern der menschlichen Gesellschaft."
Am 27. Juli 1931 ist Forel, die grosse Seele, in die Ewigkeit hinübergeschlummert. Sein Geist der Hilfsbereitschaft ist unserer Zeit nötiger denn je.
(Literaturhinweis: „Zeitgenossen" von Fritz Heberlein, 1974, Rotapfel-Verlag Zürich und Stuttgart)


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